Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
ja bestimmte »non-negotiable standards«: ethische Grundnormen und handlungsleitende Maximen, die von einem Unbedingten, einem Absoluten her begründet werden und deshalb für Hunderte von Millionen Menschen auch unbedingt gelten sollen.
Konkret: Fünf große Gebote der Menschlichkeit, die zahllose Applikationen auch in Wirtschaft und Politik haben, gelten in allen großen Weltreligionen: (1) nicht töten; (2) nicht lügen; (3) nicht stehlen; (4) nicht Unzucht treiben; (5) die Eltern achten und die Kinder lieben. Diese Gebote mögen für viele allgemein klingen. Aber wieviel müßte sich ändern und sollte sich auch ändern, wenn etwa nur das Gebot »Du sollst nicht stehlen« wieder mehr ins allgemeine Bewußtsein träte und angewandt würde auf das (leider immer mehr auch in früher diesbezüglich intakten Staaten grassierende) Übel der Korruption?
Solche unbedingt geltenden Normen wehren einem prinzipienlosen Libertinismus , der allein aus dem Augenblick lebt und sich ausschließlich nach der Situation richtet. Umgekehrt allerdings dürfen solche Normen auch nicht im Geist eines unfreien Legalismus angewendet werden, der sich völlig unbekümmert um die konkrete Situation an den Buchstaben des Gesetzes halten will. In komplexen Fragen wie Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe kann man Lösungen nicht einfach in der Bibel oder einem anderen heiligen Buch nachschlagen.
Hier ist immer zu bedenken: Ethik ist weder Thetik noch Taktik. Weder soll allein das Gesetz (Gesetzesethik) noch allein die Situation (Situationsethik) herrschen. Denn: Normen ohne die Situation sind leer; die Situation aber ohne Norm ist blind. Vielmehr: Die Normen sollen die Situation erhellen, und die Situation die Normen bestimmen. Gut, sittlich ist also nicht einfach das abstrakt Gute oder Richtige, sondern das konkret Gute oder Richtige: das Angemessene. Mit anderen Worten: Nur in der bestimmten Situation wird die Verpflichtung konkret. Aber in einer bestimmten Situation, die freilich nur der Betroffene selber zu beurteilen vermag, kann die Verpflichtung durchaus unbedingt werden. Das heißt: Unser Sollen ist immer situationsbezogen, aber in einer bestimmten Situation kann das Sollen kategorisch werden: ohne Wenn und Aber. In jeder konkreten sittlichen Entscheidung ist also die allgemeine normative Konstante zu verbinden mit der besonderen situationsbedingten Variablen.
Vernünftiger Weg der Mitte
Gewiß, Religionen waren und sind immer in Versuchung, in der Individual- wie in der Sozialethik, in der Sexual- wie in der Wirtschafts- und Staatsethik legalistisch auf irgendwelchen rigoristischen Extrempositionen herumzureiten. Und doch können sie, wo sie wollen, Hunderte von Millionen Menschen auf dieser Erde für einen vernünftigen Weg der Mitte zwischen Libertinismus und Legalismus gewinnen. Denn alle großen Religionen fördern ja Handlungsbilder, die einen Weg der Mitte weisen – so wichtig im Blick auf die Komplexität individueller und kollektiver Neigungen, Emotionen und Interessen.
Konkret: Es ist ein Weg der Mitte zwischen Besitzgier und Besitzverachtung, Hedonismus und Asketismus, Sinnenlust und Sinnenfeindlichkeit, Weltverfallenheit und Weltverneinung. Seien es die kultisch-sozialen Pflichten, die das gesamte Leben eines Hindu strukturieren, sei es die buddhistische »Gelassenheit« im Umgang mit der Welt oder die auf Weisheit zielende Lehre des Konfuzius, seien es die Gebote von Tora und Talmud, die den Menschen vor Gott auf seine Pflichten in der Welt hinweisen, sei es die weder legalistische noch asketische Verkündigung Jesu oder die vielen vernünftigen, an den Erfordernissen des Alltags orientierten Anweisungen des Koran: gefordert ist in allen Fällen ein verantwortungsbewußtes Handeln – sich selbst und der Umwelt gegenüber. Alle Religionen fordern nicht nur bestimmte Spielregeln, sondern bestimmte Dispositionen , Haltungen , »Tugenden« , die das Verhalten des Menschen von innen zu steuern vermögen, all das, was gesetzliche Vorschriften eben nicht in gleicher Weise zu leisten vermögen. In die gegenwärtige gesellschaftliche Situation hinein übersetzt, würde der vernünftige Weg der Mitte bedeuten: ein Weg zwischen ignorantem Rationalismus und larmoyantem Irrationalismus, zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und Wissenschaftsverteufelung, zwischen Technikeuphorie und Technikfeindlichkeit, zwischen bloßer Formaldemokratie und totalitärer Volksdemokratie.
Goldene Regel
Gewiß,
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