Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
Buch »Jesus« beschreibt Hans Küng auf gut vierzig Seiten die ethischen Forderungen Jesu. Die hier abgedruckte Passage beschreibt allgemein jene ethische Grundhaltung, wie sie vor allem in der Bergpredigt zum Ausdruck kommt.
Statt Gesetzlichkeit Gottes Wille
Was also wollte Jesus? Es ist bereits deutlich geworden: Gottes Sache vertreten. Das meint er mit seiner Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes. Daß aber Gottes Name geheiligt werde und sein Reich komme, erscheint in der Mattäusfassung des Vaterunsers erweitert durch den Satz: Dein Wille geschehe! Was Gott im Himmel will, das soll auf Erden getan werden. Dies also bedeutet die Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes, wenn sie als Forderung für den Menschen hier und jetzt verstanden wird: Es geschehe, was Gott will . Dies gilt für Jesus selbst bis in seine eigene Passion hinein: Sein Wille geschehe. Gottes Wille ist der Maßstab. Dies soll auch für seine Nachfolge gelten: Wer den Willen Gottes tut, ist ihm Bruder, Schwester, Mutter. Nicht Herr, Herr sagen, sondern den Willen des Vaters tun – das führt ins Himmelreich. Es ist somit unverkennbar und wird durch das ganze Neue Testament hindurch bestätigt: Oberste Norm ist, was Gott will, ist der Wille Gottes .
Das Tun des Willens Gottes ist für viele Fromme eine fromme Formel geworden. Sie haben ihn mit dem Gesetz identifiziert. Daß es hier um eine sehr radikale Parole geht, erkennt man erst, wenn man sieht: Der Wille Gottes ist nicht einfach identisch mit dem geschriebenen Gesetz und erst recht nicht identisch mit der das Gesetz auslegenden Tradition. Sosehr das Gesetz den Willen Gottes künden kann, sosehr kann es auch Mittel sein, um sich hinter ihm gegen Gottes Willen zu verschanzen. So leicht führt das Gesetz zur Haltung der Gesetzlichkeit . Eine Haltung, die trotz rabbinischer Aussagen über das Gesetz als Ausdruck der Gnade und des Gotteswillens weit verbreitet war!
Ein Gesetz gibt Sicherheit: weil man weiß, woran man sich zu halten hat. An genau dieses nämlich: an nicht weniger (das kann manchmal lästig sein), aber auch nicht an mehr (das ist manchmal recht bequem). Nur was geboten ist, muß ich tun. Und was nicht verboten ist, das ist erlaubt. Und wie viel kann man in einzelnen Fällen tun und lassen, bevor man mit dem Gesetz in Konflikt kommt! Kein Gesetz kann alle Möglichkeiten berücksichtigen, alle Fälle einkalkulieren, alle Lücken schließen. Zwar versucht man immer wieder, frühere Gesetzesbestimmungen (für die Moral oder die Lehre), die damals einen Sinn hatten, ihn aber unterdessen verloren haben, künstlich auf die neuen Lebensbedingungen zurechtzubiegen beziehungsweise aus ihnen künstlich etwas Entsprechendes für die veränderte Situation abzuleiten. Dies scheint der einzige Weg zu sein, wenn man den Buchstaben des Gesetzes mit dem Willen Gottes identifiziert: durch Gesetzesinterpretation und Gesetzesexplikation zur Gesetzeskumulation.
Im mosaischen Gesetz zählte man 613 Vorschriften (im revidierten römischen Codex Iuris Canonici zählt man 1752 Canones). Aber je feiner das Netz geknüpft ist, um so zahlreicher sind auch die Löcher. Und je mehr Gebote und Verbote man aufstellt, um so mehr verdeckt man das, worauf es entscheidend ankommt. Und vor allem ist möglich, daß man das Gesetz im Ganzen oder auch einzelne Gesetze nur hält, weil es nun einmal vorgeschrieben ist und man eventuell die negativen Folgen zu fürchten hat. Wäre es nicht vorgeschrieben, würde man es nicht tun. Und umgekehrt ist möglich, daß man vieles nicht tut, was eigentlich getan werden sollte, weil es nun einmal nicht vorgeschrieben ist und einen niemand darauf festlegen kann. Wie beim Priester und Leviten in der Parabel: Er sah ihn und ging vorüber. Damit erscheint die Autorität wie der Gehorsam formalisiert: Man tut es, weil das Gesetz es befiehlt. Und insofern ist auch grundsätzlich jedes Gebot oder Verbot gleich wichtig. Eine Differenzierung, was wichtig ist und was nicht, ist nicht nötig.
Die Vorteile der Gesetzlichkeit damals wie heute sind unübersehbar. Es läßt sich leicht begreifen, warum so viele Menschen sich gegenüber anderen Menschen lieber an ein Gesetz halten, als sich persönlich zu entscheiden: Wie vieles müßte ich sonst tun, was nicht vorgeschrieben ist? Und wie vieles lassen, was gar nicht verboten ist? Dann doch lieber klare Grenzen. Im Einzelfall läßt sich dann noch immer diskutieren: ob wirklich eine Gesetzesübertretung vorlag, ob es wirklich schon
Weitere Kostenlose Bücher