Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
Sie verweigert den kasuistischen Kompromiß. Sie überschreitet und durchbricht die weltlichen Begrenzungen und rechtlichen Ordnungen. Die herausfordernden Beispiele der Bergpredigt wollen gerade nicht eine gesetzliche Grenze angeben: nur die linke Wange, zwei Meilen, den Mantel – dann hört die Gemütlichkeit auf. Gottes Forderung appelliert an die Großzügigkeit des Menschen, tendiert auf ein Mehr. Ja, sie geht auf das Unbedingte, das Grenzenlose, das Ganze. Kann Gott mit einem begrenzten, bedingten, formalen Gehorsam – nur weil etwas geboten oder verboten ist – zufrieden sein? Da würde ein Letztes ausgespart, was alle noch so minutiösen Rechts- und Gesetzesbestimmungen nicht fassen können und was doch über die Haltung des Menschen entscheidet. Gott will mehr: Er beansprucht nicht nur den halben, sondern den ganzen Willen. Er fordert nicht nur das kontrollierbare Äußere, sondern auch das unkontrollierbare Innere – des Menschen Herz. Er will nicht nur gute Früchte, sondern den guten Baum. Nicht nur das Handeln, sondern das Sein. Nicht etwas, sondern mich selbst, und mich selbst ganz und gar.
Das meinen die verwunderlichen Antithesen der Bergpredigt, wo dem Recht der Wille Gottes gegenübergestellt wird: Nicht erst Ehebruch, Meineid, Mord, sondern auch das, was das Gesetz gar nicht zu erfassen vermag, schon die ehebrecherische Gesinnung, das unwahrhaftige Denken und Reden, die feindselige Haltung sind gegen Gottes Willen. Jegliches »Nur« in der Interpretation der Bergpredigt bedeutet eine Verkürzung und Abschwächung des unbedingten Gotteswillens: »nur« eine bessere Gesetzeserfüllung, »nur« eine neue Gesinnung, »nur« ein Sündenspiegel im Licht des einen gerechten Jesus, »nur« für die zur Vollkommenheit Berufenen, »nur« für damals, »nur« für eine kurze Zeit …
Wie schwierig es freilich für die spätere Kirche war, Jesu radikale Forderungen durchzuhalten, zeigen ihre Entschärfungen schon in der (palästinisch-syrischen?) Gemeinde des Mattäus: Nach Jesus soll jeglicher Zorn unterbleiben, nach Mattäus zumindest bestimmte Schimpfworte wie »Hohlkopf«, »Gottloser«. Nach Jesus soll man das Schwören überhaupt unterlassen und mit dem einfachen Ja oder Nein durchs Leben kommen, nach Mattäus zumindest bestimmte Schwurformeln vermeiden. Nach Jesus soll man dem Nächsten die Verfehlung vorhalten und, wenn er davon absteht, ihm vergeben; nach Mattäus muss ein geregelter Instanzenweg eingehalten werden. Nach Jesus soll dem Mann – zum Schutz der rechtlich empfindlich benachteiligten Frau – die Scheidung bedingungslos verboten sein; nach Mattäus darf zumindest im Fall krassen Ehebruchs der Frau eine Ausnahme gemacht werden.
Alles nur Aufweichungstendenzen? Es muss dann zumindest auch das ehrliche Bemühen um die bleibende Gültigkeit der unbedingten Forderungen Jesu in einem Alltag gesehen werden, der nicht mehr von der Naherwartung des kommenden Reiches bestimmt ist. Man denke zum Beispiel an die Ehescheidung , die Jesus ganz unjüdisch gegen das patriarchalische mosaische Gesetz rigoros verboten hatte mit der apodiktischen Begründung, daß Gott die Ehen zusammenfüge und nicht wolle, daß Menschen lösen, was er vereinte. Die zwischen den Schulen der Gelehrten Schammai und Hillel heftig umstrittene Frage, ob nur eine geschlechtliche Verfehlung (Schammai) oder praktisch jegliche Sache wie selbst ein angebranntes Essen (Hillel, nach Philon und Josephus die gängige Praxis) Grund zur Entlassung der Frau sein könne, war für Jesus völlig unwichtig. Ihm ging es um das Entscheidende. Freilich: Die angesichts des sich hinauszögernden Endes drängend gewordene Frage, was zu geschehen habe, wenn trotz Gottes unbedingter Forderung Ehen zerbrechen und das Leben weitergehen soll, war von Jesus nicht beantwortet worden und mußte nun beantwortet werden. Der unbedingte Appell Jesu zur Bewahrung der Einheit der Ehe wurde nun als eine Rechtsregel verstanden, die gesetzlich immer genauer fixiert werden mußte: Dem Verbot der Entlassung und Wiederheirat der Frau wurde im Hinblick auf die hellenistische Rechtslage das Verbot der Scheidung seitens der Frau samt Ausnahmeregel für Mischehen sowie das Verbot der Wiederheirat für beide Teile hinzugefügt; doch mußte man so auch den Ehebruch als Ausnahmegrund für eine Ehescheidung zugestehen. Ob eine andere Antwort als die wiederum kasuistische Lösung durch gesetzliche Festlegung der einzelnen Fälle möglich gewesen wäre?
Jesus selber
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