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Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)

Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)

Titel: Was bleibt: Kerngedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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Wahren, Kloake der Ungewißheit und des Irrtums; Glanz und Auswurf des Weltalls« (Fr 434).
    Was soll da noch Philosophie? Ist die Philosophie hier nicht überhaupt am Ende? In der Tat erfolgt bei Pascal an diesem Punkt eine völlig überraschende Wende: »Erkenne also, hochmütiger Mensch, was für ein Paradoxon du dir selber bist« (ebd.). Worauf ein geradezu diktatorischer Appell an den Menschen ergeht, zu erkennen, daß die Lösung des Widerspruchs gar nicht vom Menschen erwartet werden kann und der Mensch auf ein anderes verwiesen ist, das ihn übersteigt: »Demütige dich, ohnmächtige Vernunft; schweige, armselige Natur. Lerne, daß der Mensch den Menschen unendlich übersteigt, und vernimm von deinem Meister deinen wahren Zustand, den du nicht kennst. Höre auf Gott!« (ebd.)
    Ein Sprung – gewiß. Aber für Pascal nicht ein Sprung des Gedankens, sondern ein Sprung, das Wagnis des – keineswegs unvernünftigen – Glaubens. Anders als Descartes kann er, der die Ambivalenz menschlicher Vernunft durchschaut hat, seine Gewißheit nicht auf ein »cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«) gründen, sondern – konsequent – auf ein »credo ergo sum« (»Ich glaube, also bin ich«). Und nicht die Vision einer mathematisch orientierten Universalwissenschaft, wie sie Descartes in einer Novembernacht in Ulm an der Donau hat, bestimmt diesen Mann, sondern ein religiöses Grenzerlebnis, eine »Konversion«, eine »Vision« ähnlich der des Mose vor dem brennenden Dornbusch. Nur zufällig hat bekanntlich ein Diener nach Pascals Tod das immer wieder neu in seinen Rock eingenähte Erinnerungsblatt (»mémorial«), ebenfalls aus einer Novembernacht und nach einer langen Vorgeschichte, gefunden, das mit dem groß geschriebenen Wort »Feu«, »Feuer«, beginnt und von einer Erfahrung der Gewißheit, des Sentiments, der überwältigenden Freude und eines alle Verlassenheit überwindenden Friedens berichtet. Sie hatte Pascal nicht beim abstrakten »Gott der Philosophen und Gelehrten«, sondern beim lebendigen »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott Jesu Christi« erfahren. Eine »mystische« Erfahrung im eigentlichen Sinn der Einheitserfahrung ist das nicht, wohl aber die intensiv-innige Erfahrung des göttlichen Gegenüber im Geist der Väter und Propheten Israels.
    Für Pascal ist damit ein letzter Grund der Gewißheit gefunden, an dem nun nicht mehr gezweifelt werden, auf dem man alle Gewißheit aufbauen könne: nicht das eigene Selbstbewußtsein des denkenden Menschen, nicht ein Begriff, irgendeine Idee von Gott, sondern der wirkliche, lebendige Gott der Bibel, der zwar immer gegenwärtig, aber äußerlich abwesend ist: der verborgene Gott, der sich nur dem Glaubenden offenbart. Eine Urgewißheit also nicht einfach aus dem Denken, sondern aus dem Glauben. Und das ist für ihn der Glaube: »Gott spürbar dem Herzen und nicht der Vernunft« (Fr 278). Dabei soll die Vernunft nicht etwa abgewertet oder vergewaltigt werden: »Nichts ist der Vernunft so angemessen wie dieses Nichtanerkennen der Vernunft« (Fr 272). Warum? »Der letzte Schritt der Vernunft ist, daß sie anerkennt, daß es unendlich viele Dinge gibt, die sie übersteigen« (Fr 267). Kurz, es braucht beides: »Unterwerfung und Anwendung der Vernunft; darin besteht das wahre Christentum« (Fr 269).
    Pascals höchst ekstatische undhöchst bewußte Erfahrung einer neuen Gewißheit des Herzens am 23.   November 1654 »von ungefähr zehneinhalb abends bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht« – im selben Jahre, Ludwigs XIV. Krönungsjahr, hat er der Pariser Akademie seine Abhandlungen über das arithmetische Dreieck und über die Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgelegt – ist für ihn Höhepunkt und Lösung einer Krise. …
    Unerledigte Fragen
    Wer könnte – wann immer man sich mit Pascals Person, Werk und Leben beschäftigt – seine Betroffenheit verleugnen? Was wäre seinen Schriften hinzuzufügen? Wo philosophisch-theologische Fragen derart zu Schicksalsfragen werden und einen Lebensweg zum Leidensweg machen: Verbietet sich da nicht ein Urteil über die Person? Fürwahr: Nicht um seine Person kann es gehen. Aber es muß erlaubt sein, an seine Position im Kontext unserer Fragestellung nach Religion und Moderne Fragen zu stellen. Sie lassen sich in die eine zusammenziehen: Warum konnte die Religion Pascals, die sich so scharfsinnig gegen die Herausforderungen der neuen Zeit zu behaupten verstand, nicht die Religion der Moderne werden?

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