Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
gibt. …
Nur diejenige Erkenntnis und Wissenschaft kann dieser Dynamik von Subjekt und Objekt gerecht werden, die die ganze Bewegung mitmacht und sich nicht an scheinbar evidente fixe Definitionen und klare Thesen hängt. Dies tut der Rationalismus, der dafür die Wirklichkeit in ihrer ganzen Lebendigkeit, Bewegtheit, Konkretheit und Fülle gar nicht zu Gesicht bekommt. Für Hegel war es deshalb keine Liebhaberei und kein Spiel mit der Zahl Drei, wenn sein kreisendes Denken so oft im kleinen wie im großen in Dreierschritten (oder in Dreiecken aus Dreiecken) voranging. Dahinter steckte die seither nicht mehr vergessene Grundeinsicht, daß ich mit einem Satz allein nicht wahrhaft die Wahrheit sagen kann, sondern daß ich dafür im Grunde – bestimmend, präzisierend, negierend und aufhebend – drei Sätze brauche: So ist es, aber doch nicht so, sondern so! Und so weiter. Wobei die Wahrheit nicht die einzelnen Schritte, Sätze, Momente, sondern das Ganze ist. …
Einzelheiten müßten hier untersucht werden. Es genügt für unseren Zusammenhang zu sehen, daß die Neuscholastik (und mit ihr auch das Vatikanum I ) im Unterschied zur Hochscholastik vom Geist des Rationalismus, gegen den man im übrigen heftig protestierte, geprägt war. Nur so läßt sich verstehen, warum man so sehr an klaren und eindeutigen Sätzen, an möglichst weitgehender Definierung der offiziellen Kirchenlehre und einem möglichst »geschlossenen« System interessiert war. Nur daß die führende Philosophie der Zeit schon weit über einen solchen naiven Rationalismus hinausgeschritten war! Und wie klar, eindeutig und unproblematisch diese klaren und deutlichen Definitionen sein sollten, hat dann die Folgezeit und nicht zuletzt das Vatikanum II bewiesen. Oft kommt es einem beim Studium der Sätze des Vatikanum I, und nicht zuletzt der Konstitution über den katholischen Glauben, so vor, als ob man ein edles Tier in Bewegung, aber nicht unbedingt im günstigsten Moment, auf eine photographische Platte fixiert hätte. Was dann die Frage aufsteigen läßt: Und dies soll unser Glaube sein? Was, nach Hegel, vermutlich nur mit Ja und Nein beantwortet werden könnte.
Auch hier sei, um unnötige Mißverständnisse zu vermeiden, präzisiert: Die geäußerte Kritik gegenüber der Klarheit als Wissenschaftsideal will nichts sagen gegen ein kritisch reflektiertes Bemühen um Klarheit, ohne das auch die Theologie der Konfusion und Destruktion preisgegeben würde; auch in der Theologie kann etwa teutonischer Tiefsinn durch lateinische Klarheit nur gewinnen und umgekehrt, wie denn auch diese beiden Eigenschaften zum Glück nicht von vornherein nach Nationalitäten verteilt sind. Die Theologie wird sich somit um Klarheit bemühen, auch wenn sie nicht mit dieser Art von Klarheit wird aufwarten können, welche die Mathematik und die arbeitsteiligen Einzelwissenschaften bieten, solange sie sich wenigstens Gegenstand und Gegenstandsbereich vorgeben lassen, ohne sie zu hinterfragen.
Aber es ist ein Unterschied, ob sich die Theologie um Klarheit in ihren Sätzen bemüht, oder ob sie mit ihren Sätzen definitive Klarheit erreicht zu haben meint. Es ist ein Unterschied, ob sie ihre Sache an jedem Punkt genau zu treffen versucht oder ob sie sie in klaren Sätzen gefrieren läßt. Es ist ein Unterschied, ob sie die Dunkelheiten und Unfaßlichkeiten deutlich anzugeben und so auch das Unklare klar auszusprechen vermag oder ob sie Dunkelheiten und Unfaßlichkeiten nicht wahrhaben will und so das Unklare unklar wegzudistinguieren versucht. Es ist ein Unterschied, ob sie in allem Ringen um die Wahrheit offenbleibt für die immer größere Wahrheit oder ob sie die Wahrheit und sich selbst einschließt in den goldenen Käfig eines geschlossenen Systems. Kurz: Es ist ein Unterschied, ob eine Theologie sich der Klarheit der Rationalität oder der Scheinklarheit des Rationalismus verpflichtet hat. Die Neuscholastik ist in diesem Sinn von Rationalismus nicht völlig freizusprechen, und die beiden letzten Konzilien mußten dafür bezahlen.
Damit ist die Problematik sogenannter klarer Sätze genügend expliziert worden. Und noch mehr als am Ende des vorausgehenden Abschnittes drängt sich die Frage auf: Wie wäre es um den Bestand einer Kirche bestellt, wenn sie ihren Glauben ganz von bestimmten klaren Sätzen abhängig machen würde? Eigentlich sollte gerade die Theologie sich und andere daran erinnern, daß Klarheit (»doxa«) ursprünglich nicht Sache der Methode und auch
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