Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
Sinne einer doppelstöckigen Moral missverstandenen – evangelischen »Räte« (Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam) verdeutlichen. Gewiss, die drei evangelischen Räte sind in dieser Zusammenstellung eine Systematisierung späterer Theologie. Aber gerade die ersten beiden haben eine direkte Begründung im Neuen Testament. Und ist auch keineswegs jede christliche Existenz grundsätzlich an ihnen und nur an ihnen zu messen, so können sie, richtig, d. h. biblisch verstanden für den Christen in der Welt scharfe kritische Fragen sein, die aufdie vom Evangelium geforderte Grundentscheidung hinführen.
Man kommt um den Eindruck nicht herum, dass Thomas More gerade in der umgekehrten Richtung engagiert ist. Christliche Soziologen bezeichnen oft als die drei Grundsäulen der gesellschaftlichen Ordnung: Familie, Eigentum, Staat. So erklären sie uns: Die von Gott dem Menschen gegebene Aufgabe ist die individuelle Verwirklichung seiner eigenen Person innerhalb seiner menschlichen Natur.
Verwirklichung der menschlichen Person zuerst gleichsam nach innen: in der ehelichen Gemeinschaft durch die gegenseitige liebende Hingabe und die Sorge für Unterhalt und Erziehung der Kinder. Deshalb die gesellschaftliche Institution und Ordnungsfunktion der Familie , weil nur so eine sinnvolle Ordnung dieses Bereichs garantiert werden kann.
Verwirklichung der menschlichen Person aber zugleich auch nach außen: in Richtung auf die Sachwelt, ohne die der Mensch nicht leben kann. Deshalb die gesellschaftliche Institution und Ordnungsfunktion des Eigentums , weil nur so die Sachgüter dienen können zur vollen Entfaltung und Geltung der freien menschlichen Persönlichkeit, der Zukunftssorge für den Einzelnen und seine Familie und schließlich zur Erhaltung und Förderung des allgemeinen Wohlstandes, der sozialen Ordnung und des sozialen Friedens.
Weil sich aber die Familienverhältnisse und die Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse dauernd und unabhängig voneinander verändern und diese beiden Lebenskreise zueinander in dialektischer Spannung und Entwicklung stehen, ist eine Rechtsordnung notwendig, ist eine Macht notwendig, die dieser Rechtsordnung Dauer verleiht. Deshalb die gesellschaftliche Institution und Ordnungsfunktion des Staates , der – nicht als einziger, wohl aber als oberster Garant der Rechtsordnung – die Aufgabe hat, die Rechte und Aufgaben der vielen Einzelnen zu koordinieren und ihnen Dauer zu verleihen, damit die menschliche Person so ihre volle und dauernde Integration in Sicherheit und Freiheit zu finden vermag. …
Ist es nun aber nicht eigenartig, wie vom Evangelium her – ärgerlich für Soziologen – gerade diese drei Ordnungssäulen für den in die Nachfolge Christi eintretenden Christen in Frage gestellt werden? Ist es nicht auffällig, wie genau sich die drei Ordnungsträger und die drei evangelischen »Räte« mit ihrer mächtigen Wirkungsgeschichte entsprechen, nein, widersprechen? Die Vollkommenheit des Christen soll bestehen in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Widerspricht nicht frei gewählte Armut dem Eigentum, frei gewählte Ehelosigkeit der Familie, frei gewählter Gehorsam als Verzicht auf Recht und Macht der verpflichtenden Rechtsordnung, die vom Staat garantiert wird?
Thomas More aber scheint sich gerade an die drei Grundsäulen der gesellschaftlichen Weltordnung recht stark gehalten zu haben.
Eigentum : Sir Thomas hatte ein wunderschönes Haus in London, in Chelsea am Ufer der Themse: mit einer Bibliothek, einer Galerie, einer Kapelle, einem Park samt Obstgarten. Seine Dienerschaft war zahlreich und sein Haus voll von beachtenswerten Dingen; was aus der Fremde kam oder sonst bedeutungsvoll war, kaufte er sogleich, und er sah es gern, wenn auch andere daran Gefallen fanden. Besondere Freude aber machte es ihm, Form und Charaktereigenschaften der Tiere zu studieren. Er hielt eine ganze Menagerie mit ungezählten Vogelarten und sonstigen seltenen Tieren: Biber, Wiesel, Füchse …
Familie : Sir Thomas hatte mit 27 oder 28 Jahren die siebzehnjährige Jane Colt geheiratet, die er sehr liebte und zu bilden versuchte; es wurden ihm drei Töchter, Margaret, Cecily und Elizabeth, und ein Sohn, John, geboren. Nachdem seine Frau früh verstarb, heiratete er ein zweites Mal; Frau Alice, älter und wenig freundlich, war immerhin eine gute Hausfrau. An seinen Kindern hing er sehr. Er ließ seinen Töchtern dieselbe humanistische Bildung wie seinem Sohn zukommen und war sich bewusst, dass er damit
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