Was danach geschah
überlassen worden waren. Ich würde meinen Mandanten nicht leichtfertig die Erinnerungen rauben oder verlangen, dass sie im anderen Raum warteten, während ich mit ihrem Schöpfer über ihre Ewigkeit verhandelte. Sie würden die Gelegenheit erhalten, sich an ihrer Verteidigung zu beteiligen und mit eigenen Worten zu erklären, was in ihrem Leben passiert war und warum.
So blieben wir, mein erster geistlicher Mandant und ich, einen Moment am Abgrund zur Ewigkeit sitzen.
»Hast du Angst?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete eine männliche Stimme zögernd.
»Ich verstehe. Ich werde alles tun, um dir zu helfen.«
Doch auch ich hatte Angst. Jeder Anwalt hat Zweifel, und was im Gerichtssaal von Schemaja auf dem Spiel stand, war weit größer als das, was in jedem anderen Gerichtssaal der Welt riskiert wurde.
Wie kann ich die Last von jemand anderem ertragen, wenn mir schon meine eigene zu schwer ist? Wie kann ich es wagen, das Konto eines anderen zu bereinigen, wenn meine eigene Schuld unbezahlt bleibt?
»Ich glaube nicht, dass mir jemand helfen kann«, sagte er. »Ich habe etwas Schreckliches getan.«
Seine Stimme war kaum hörbar, klang resigniert und hoffnungslos. Ich konnte diese Verzweiflung nicht unbeantwortet lassen, ganz gleich, welche Dämonen mich jagten oder was er getan hatte. Sein Schuldgeständnis weckte nicht nur mein Mitleid, sondern machte mir auch klar, dass es diesen Fall schon immer gegeben und ich mich mein ganzes Leben lang auf ihn vorbereitet hatte. Er war der Grund, warum ich auserwählt worden war, Seelen vor dem Jüngsten Gericht zu verteidigen. In diesem Moment schien sich das Geheimnis meines eigenen Lebens und meines Lebens danach unerwartet im Leiden einer anderen Seele zu enthüllen. Ich würde mich verpflichten, meine Mandanten vor Elend und Ungerechtigkeit zu bewahren. Ich würde sie vor dem Thron Gottes erlösen.
Froh über diese Entdeckung, konnte ich der Seele hinter mir nicht mehr den Rücken zukehren. Ich sehnte mich danach, sein Gesicht im Licht der Wahrheit zu sehen, alles über sein Leben zu erfahren, was ich konnte, das Gute und das Schlechte. Ich würde meinen Segen geben, nicht verurteilen, und alles in meiner Macht Stehende tun, damit ihm alle Vorteile zugutekommen und alle Zweifel ausgeräumt werden würden. Ich würde um der Gerechtigkeit willen mit der Partisanenstimme einer Anwältin im Gerichtssaal sprechen und selbst meine eigene Bestrafung riskieren. Ich würde nie zulassen, dass dieser Seele das passierte, was mit Toby Bowles, Amina Rabun und meinem Onkel Anthony passiert war.
Dies waren die Versprechen, die ich mir abnahm, als ich mich meinem Mandanten zuwandte – Versprechen, die ich vielleicht schon Jahre zuvor als junges Mädchen gegeben hatte, als eine Transportkette meinen Körper verunstaltet und mein Leben neu geordnet hatte. Ich wusste jetzt, dass ich nach Schemaja gebracht worden war, um diesen heiligen Schwur zu erfüllen und vielleicht für meine eigene Rettung zu sorgen.
Doch als ich mich umdrehte, um diese wunderschöne, hilflose Seele zu begrüßen, der ich meine ganze Hingabe, meine Liebe, meine Ewigkeit widmen würde, saß ich plötzlich einem ganz anderen Gesicht gegenüber. Es war das bösartige Gesicht eines Mörders, nicht das unschuldige eines Opfers.
Nein … nein, nicht er. Bitte … bitte, lieber Gott, nicht er!
Doch es war zu spät.
Der Mann, der mich ermordet hatte, war gestorben und nach Schemaja gekommen.
Jetzt hatte seine Seele von meinem Inneren Besitz ergriffen. Und ich hielt sein Schicksal in meinen Händen.
TEIL VIER
31
Otto Rabun-Bowles wusste nichts von seiner turbulenten Familiengeschichte, als er in der Halbzeitpause des Footballspiels benommen am Spielfeldrand saß. Die ganze Zeit über war er von Kindern in die Mangel genommen worden, die fast doppelt so groß waren wie er. Er flehte seinen Vater, Tad, an, ihn nicht wieder aufs Spielfeld zu schicken. Doch der reagierte, wie dessen Vater dem kleinem Tad gegenüber reagiert hatte – er schimpfte mit Otto, weil er sich wie ein Kleinkind benahm, und wies ihn an, wieder aufs Feld zu gehen.
Dies war der Moment, in dem Toby Bowles, Ottos Großvater, die Bühne betrat. Nachdem sich Ottos Vater und Großvater seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten, würde dies das erste und einzige Mal sein, in dem Otto diesen alten Mann sehen würde. Toby Bowles, der früher so gefühllos gewesen war, stieg von der Tribüne herab, um sich für seinen Enkel einzusetzen und
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