Was danach geschah
Er sah mich mit furchtbaren hasserfüllten Augen an, zog den Zünder der Granate und warf sie ins Loch. ›Nein! Nein!‹, schrie ich. ›Wir sind hier unten!‹ Die Granate rollte zwischen meine Beine. Sie war kalt und glatt wie ein Stein im Fluss. Ich sah nach oben, wo sich dein Onkel abwandte und sich die Ohren zuhielt. Und dann explodierte sie.«
Mi Lau sprach ohne Wut oder andere Gefühle, als würde sie davon erzählen, wie sie Reis auf einem Feld pflanzte. Ich senkte beschämt den Kopf. »Es tut mir so leid. Das wusste ich nicht.«
»Danke«, sagte Mi Lau. »Aus den Präsentationen weiß ich alles über deine Familie. Es scheinen nette Menschen zu sein. Komisch, dein Onkel war vor deiner Geburt davon überzeugt, du würdest ein Junge werden, aber er war so glücklich, als er erfuhr, dass du ein Mädchen warst.«
»Mir wurde gesagt, er sei als Held gestorben.«
»Vielleicht ist er das«, räumte Mi Lau ein, »aber Helden leben nur in den Köpfen der Menschen. Nachdem alle Tunnel in unserem Dorf gesprengt worden waren, zog er mit ein paar anderen Soldaten los, um Marihuana zu rauchen. Er sagte lachend zu ihnen: ›Das Beste daran, dass wir heute Morgen diese Tunnel voller Schlitzaugen gesprengt haben, ist, dass sie schon begraben sind und wir jetzt den ganzen Nachmittag Zeit haben, um dieses Zeug zu rauchen.‹ Eine Stunde später ging er los und schoss sich selbst in den Kopf. Vielleicht war es heldenhaft, sich das Leben zu nehmen, damit er es anderen nicht mehr nehmen konnte.«
Ich brauchte lange, um zu begreifen, was sie gesagt hatte.
»Wie kannst du ihn vertreten, wenn er dich und deine Familie getötet hat?«, fragte ich. »Es tut mir leid, was er getan hat, aber wie kannst du in seiner Verhandlung gerecht sein? Also, ich meine, natürlich würdest du wollen, dass er verurteilt wird – und das sollte er vielleicht auch. Deswegen ist er wahrscheinlich noch hier.«
Mi Lau kniff die Augen zusammen und richtete sich entrüstet auf. »Ich präsentiere Anthony Bellinis Leben genau so, wie er es gelebt hat. Ich kann nicht ändern, was er getan hat, und ich verzerre die Präsentation in keiner Weise. Luas überwacht uns sehr genau und bestraft jeden Präsentator, der versucht, das Ergebnis zu beeinflussen.«
»Aber wie kannst du ihm nach dem, was er dir angetan hat, überhaupt gegenübertreten?«
»Er kann mir nichts mehr antun, und es geht mir besser, wenn ich weiß, dass Gerechtigkeit geübt wurde. Im Gerichtssaal wird jede Schuld eingestanden … es gibt keine Lügen. Manche behaupten, Schemaja ist dort, wo sich Jesus drei Tage lang nach seinem Tod aufhielt, bevor er in den Himmel auffuhr und alle Seelen präsentierte, die je gelebt hatten. Ich glaube, Schemaja ist dort, wo die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse ausgetragen wird. Man darf nicht zulassen, dass das Böse gewinnt. Es darf sich nicht verstecken oder verkleiden, es muss ausgerottet und zerstört werden, und alle, die Böses tun, müssen bestraft werden.«
Als sich Mi Lau erhob, verwandelte sie sich plötzlich wieder in das Mädchen, dessen Körper von der Granate meines Onkels verstümmelt worden war. »Ich muss jetzt gehen«, verabschiedete sie sich. »Willkommen in Schemaja. Du wirst hier Gott dienen. Du wirst der Gerechtigkeit dienen.«
28
Am nächsten Morgen wachte ich mit dem nussig-süßen Duft von irischem Haferbrei in der Nase auf. Diesen köstlichen Duft hatte ich nicht mehr gerochen, seit Großmutter Cuttler ihn für meinen Großvater und mich auf dem Hof zubereitet hatte. Ich ging nach unten, wo Nana Bellini, bereits angezogen, am Werkeln war. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und stellte eine Schüssel mit dampfendem Haferbrei vor mich auf den Küchentisch.
»Für heute brauchst du eine handfeste Grundlage«, sagte sie.
Irgendwie wirkte sie anders. Ihr Blick schien in die Ferne zu schweifen, war beinahe melancholisch. So hatte ich sie noch nie erlebt.
»Danke«, sagte ich, erfreut über dieses Frühstück. »Geht’s dir gut?«
»Ja. Es ist nur so, dass die Zeit für mich gekommen ist, zu gehen, und ich bin traurig, dass wir uns trennen müssen.«
»Gehen? Was meinst du mit ›gehen‹? Wohin?«
»Einfach gehen, mein Kind, weitergehen. Du kamst verwundet und verängstigt hier an, aber auch wenn noch etwas von dem Schmerz und der Angst in dir ist, wirst du davon nicht mehr bestimmt. Du hast dich von dem Schock des Todes erholt. Deswegen war ich hier – um dir zu helfen. Du bist jetzt Präsentatorin. Du brauchst
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