Was danach geschah
los?«, will er wissen.
»Das ist nicht nur deine Entscheidung.« Ich versuche, so leise wie möglich zu sprechen, damit meine Sekretärin nichts mitbekommt. »Du bist nicht mehr alleine. Wenn du allein wärst, lägen die Dinge anders, und du könntest tun, was immer du willst. Aber du hast jetzt eine Frau und eine Tochter, Bo. Was ist mit uns? Du bringst nicht nur dich in Gefahr, sondern auch Sarah und mich.«
Bo hält etwas über seine Sprechmuschel. Ich höre, wie im Hintergrund jemand mit ihm spricht, bevor er sich wieder meldet. »Entschuldige, die Mannschaft wartet schon im Wagen. Ich muss los nach Harrisburg.«
»Sei bitte vorsichtig, hörst du?«, wiederhole ich. »Und mit dem Thema sind wir noch nicht durch. Ich glaube wirklich, du solltest die ganze Angelegenheit dem FBI übergeben.«
»Okay, ich werde vorsichtig sein«, verspricht er. »Und wir reden heute Abend weiter. Wann machst du Feierabend?«
»Gegen sechs.«
»Übertreiben wir es damit nicht ein wenig bei der Tagesstätte? Selbst bei zwei Gehältern weiß ich nicht, wie lange wir uns noch die Strafgebühr von fünf Dollar pro zu spät abgeholter Minute leisten können. Irgendwann werden sie sie rausschmeißen, und was machen wir dann?«
Er hat recht. Unsere Rechnung für das zu späte Abholen beläuft sich in diesem Jahr bereits auf fünfhundert Dollar, und die Leiterin hat uns mit immer drängenderen Worten gewarnt, dass die Fünf-Dollar-Verwarnungen für Eltern irgendwann in »rote Karten« umgewandelt werden.
»Mach dir keine Sorgen«, beruhige ich ihn. »Ich werde rechtzeitig dort sein.«
»Okay, tschüs. Ich liebe dich«, verabschiedet er sich.
Ich bin immer noch nervös. »Sei vorsichtig, Bo.«
»Ich versprech’s.«
»Okay. Ich liebe dich auch. Tschüs.«
Ich lege auf und blicke zum Foto mit Bo und mir auf der Hochzeit von Bos Schwester Lisa. Er trägt eine Jarmulke und sieht so süß und glücklich aus. Ich hatte gute Gründe, mich in Bo Wolfson zu verlieben – er war unglaublich hübsch, einfühlsam und rücksichtsvoll, ein wunderbarer Mann, der in mir etwas Besonderes sah, mir das Gefühl gab, vollständig zu sein und geliebt zu werden, und der meine Behinderung als entzückende Eigenschaft und nicht als Grund für Angst und Ablehnung akzeptierte.
Doch seine Konfession war es, die ihn unwiderstehlich machte. Obwohl ich als katholisches Mädchen in einer Gemeinde fundamentalistischer Protestanten erzogen worden war, funkelten Bos jüdisches Erbe mit seinen Geschichten von Kampf und Heldentum und das Versprechen, von Gott auserwählt zu sein, vor mir wie ein exotisches Schmuckstück. Meine Eltern waren enttäuscht, doch ich hatte mein Leben lang mit dem Christentum gerungen. Die Forderung Jesu, auch die andere Wange hinzuhalten, worin für mich die Grundpfeiler dieser Religion lagen, ergab in einer Welt voller Krieg und Gewalt keinen Sinn, in einer Welt voller Menschen wie Harlan Hurley, einer Welt, die zuließ, dass ein achtjähriges Mädchen seinen rechten Arm verlor.
Ich sehe mir die Jarmulke genauer an, die Bo auf dem Foto trägt, doch das universelle Symbol des Judentums erinnert mich als Nichtjüdin nicht an die Gnade einer auserwählten Beziehung zu Gott, sondern an das Leiden und Opfer einer fünftausend Jahre währenden Tragödie. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich mir Harlan Hurley und Die Elf vorstelle, die versuchen, den Hass der Nazis und vielleicht auch die Verbrennungsöfen erneut zu entzünden. Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlt, über die Jahrhunderte hinweg gejagt und ermordet zu werden. Bin ich tapfer genug, um diese Last zu tragen? Möchte ich das für meine Tochter?
In meiner Ignoranz hatte ich tatsächlich angenommen, Rosch Ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, wäre eine festliche und fröhliche Feier wie unser Neujahrsfest. Doch es war genau das Gegenteil – schwermütig und unheilvoll, weil Gott das Leben beurteilt, das wir im vergangenen Jahr geführt haben. Der Klang des Schofarhorns, das die Versammelten zum Gebet in die Synagoge ruft – die Stimme Gottes, die die gesamte menschliche Rasse verdammt –, war erschreckend. Doch die Liturgie dieses Tages, die Musaf Tefilla, bestätigte meinen Glauben, dass Gott und Gerechtigkeit eine unzertrennliche Einheit bilden. Hatte ich mich vielleicht als Juristin, die in Gerechtigkeit ausgebildet war, den Auserwählten angeschlossen und in mir einen Weg der Wiedergutmachung gefunden? Bei Einbruch der Dunkelheit an Jom Kippur fragte ich
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