Was danach geschah
mich, ob mein Name im Buch des Lebens oder im Buch des Todes verzeichnet ist.
Ich widme mich wieder meinem Entwurf, arbeite ohne Mittagspause und blicke erst auf, als mir noch zehn Minuten bleiben, um Sarah von der Tagesstätte abzuholen, ohne die fünf Dollar Strafe pro Minute zahlen zu müssen. Sarah ist das letzte Kind, das abgeholt wird. Ihr klebt die braune Masse einer Waffel rund um den Mund, während sie ein Video von Barney, der Dinosaurier ansieht. Die Schande, wieder die letzte Mutter zu sein, die ihr Kind abholt, verdirbt mir beinahe die Freude, sie zu sehen. Sie ist mit mattroten Farbflecken übersät – Hose, Sweatshirt, Hände, Hals und Gesicht. Mit ausgebreiteten Armen watschelt sie lächelnd und gurrend, so schnell sie kann, auf mich zu. Ich gehe auf die Knie. Miss Erin, die Praktikantin vom College, grinst.
»Hallo, mein Schatz«, begrüße ich Sarah, hebe sie hoch, küsse ihr Gesicht und sauge den Duft ihres Haars ein. Ich blicke zu Miss Erin hoch. »Wie lief es heute mit ihr?«
»Toll«, antwortet sie. »Sie war sehr artig.«
Miss Erin ist im vorletzten Studienjahr am College und hat eindeutig ihre Berufung gefunden. Mit ihren zwei kleinen punktförmigen Augen, den dünnen Armen und Beinen und sommersprossigen Wangen, die von langen rotblonden Zöpfen umrahmt werden, sieht sie aus wie eine zum Leben erweckte Zeichentrickfigur. Sie liebt kleine Kinder, und die Kinder lieben sie.
»Tut mir leid wegen der Schweinerei«, entschuldigt sie sich. »Ich werde sie sehr vermissen. Sie war mein Lieblingskind.«
»Gehen Sie weg?«, frage ich, weil ihre Antwort vermuten lässt, dass sie Sarah nie wiedersehen wird.
»Äh, ich mache Feierabend«, antwortet sie verwirrt.
»Aber Sie haben gerade gesagt, Sie würden sie vermissen, und sie sei ihr Lieblingskind gewesen … Sie meinten wohl das Wochenende.«
Miss Erin sieht mich seltsam an und gibt Sarah einen Kuss. »Tschüs, meine Süße«, sagt sie. »Ich hab dich lieb.«
Sarah gibt Miss Erin einen Schmatzer auf die Wange.
»Danke, dass Sie so gut auf sie aufgepasst haben«, sage ich und schnappe mir Sarahs Tasche mit den fast leeren Milchflaschen und den Kunstwerken. Nach einem kurzen Blick auf ihren Beschäftigungsplan für diesen Tag verabschiede ich mich. »Schönes Wochenende«, wünsche ich ihr.
Ich trage Sarah zum Wagen hinaus, schnalle sie an und lege die »Heißer Tee und Bienenhonig« -Kassette ein. Während der Fahrt blicke ich in den Rückspiegel und frage sie, wie ihr Tag war. Sie antwortet mit einem Gurren und Babbeln.
An einem kleinen Supermarkt halte ich an, um Milch zu kaufen. Der Parkplatz ist leer. Eine Herbstbrise fährt kühl ins Wageninnere, als ich die Tür öffne. Es ist noch nicht einmal halb sieben, doch bereits so dunkel wie um Mitternacht. Ich befreie Sarah aus ihrem Kindersitz. Sie greift nach meinem Haar, und ich ärgere sie, indem ich den Kopf wegziehe. Sie zeigt ihren einzigen Zahn beim Kichern. Ihr Haar, dunkle, dichte Locken wie die ihres Vaters, fällt ihr in die Augen. Während ich sie über den Parkplatz trage, summe ich das Lied, das wir auf der Kassette gehört haben.
Wir betreten den Laden und gehen nach hinten zum Milch- und Käseregal. Ich muss Sarah mit meinem halben Arm festhalten, während ich einen großen Behälter Milch aus dem Kühlregal nehme. Im Gang mit dem Gebäck streckt Sarah ihre Hand aus und wirft eine Reihe Cupcakes auf den Boden. Als ich mich bücke, um sie aufzuheben, steigt mir der überwältigende Gestank modriger Pilze in die Nase. Komisch, denke ich. Suchend drehe ich mich um, merke aber plötzlich, dass ich mich am Bahnhof von Schemaja auf der Bank unter der rostigen Stahlkuppel befinde. Sarah ist fort. Und ich sitze blutüberströmt neben Luas.
5
Tote bezweifeln die Unwiderruflichkeit ihres Todes. Entweder wir glauben nicht, dass wir tot sind, oder wir suchen eine Möglichkeit, um ihn rückgängig zu machen. Wir lernen nur nach und nach, den Tod zu akzeptieren, jeder in seinem eigenen Tempo und auf seine eigene Art. Doch dies ist immer mit Verwirrung verbunden, weil wir die zerrissenen Fragmente unseres Lebens auf die Wunde unseres Lebens im Jenseits drücken. Für empfindsame Seelen – die Seelen von Heiligen und Poeten, die ihr Leben in dem Wissen lebten, dass Wahrheit nur in der spirituellen Welt existiert – kann der Übergang nach Schemaja völlig nahtlos und unmittelbar verlaufen. Doch für den Rest, einschließlich Menschen wie mir, die ihr Schicksal auf Logik und Vernunft
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