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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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auf die Heuballen in der Scheune meines Großvaters, zog am Fitnessgerät, um meinen linken Arm zu stärken, weil dieser die Arbeit des rechten übernehmen sollte. Ich besuchte nicht nur die Orte noch einmal, sondern nahm jedes Detail wie in der Realität wahr – Stans salziges Cornedbeef, den beißenden Rauch und das schale Bier im Smokey Joe’s, den warmen Regen am Tag unserer Hochzeit, das kalte Metall am Bett im Kreißsaal. Nana begleitete mich, mischte sich aber nicht ein. Ihre Faszination darüber, wie ich mein Leben gelebt hatte, war nahezu so stark wie meine Faszination über die Kraft, mit der ich das alles erneut erschuf. Doch es strengte mich an, so dass die Räume bald ineinander verschwammen. Die Bilder, die Wirklichkeiten, verschmolzen zu einer einzigen unsinnigen Masse, die schließlich unter ihrem eigenen Gewicht zum Stehen kam.
    Alles wurde weiß. Und dann erstrahlte ein unbeschreibliches Licht, das aus dem Nichts und von überall her zu strömen schien. Durch dieses Licht streckte mir Nana ihre Hand liebevoll entgegen, milderte die flammende Angst in mir, die mich beinahe in sich verschlungen hatte.
    »Du bist tot, mein Kind«, sagte sie. »Aber dein Leben hat eben erst begonnen.«

TEIL ZWEI

7
    »Du bist nicht vorbereitet auf das, was du sehen würdest, Brek Abigail Cuttler. Deswegen müssen wir dein Sehvermögen einschränken, was nur dadurch möglich ist, dass du an dem festhältst, von dem du glaubst, dass es dir dein Sehvermögen zeigt.«
    Dies sagte Luas, während er meine Augen in der Vorhalle zum Bahnhof von Schemaja verband. Er war wie mein Vater am Tag meiner Hochzeit hinter der Kirche, bevor er mich übergab – voller Ironie und Wehmut, als er den Schleier über mein Gesicht zog und mich ins Unbekannte begleitete. Er trug den gleichen grauen Anzug wie Bill Gwynne am letzten Tag, an dem ich ihn in der Kanzlei gesehen hatte. Die Ähnlichkeit zwischen Luas und Bill war unheimlich, ebenso wie seine Ähnlichkeit zu meinen beiden Großvätern. Manchmal schien er alle drei Männer gleichzeitig zu sein, wenn sich die äußerlichen Merkmale wie bei einem Hologramm veränderten. Ich für meinen Teil sah so frisch und vorzeigbar aus wie am Tag meiner Hochzeit. Nana hatte wie eine Brautmutter den ganzen Vormittag viel Wirbel um mich gemacht. Dementsprechend perfekt waren auch Haar und Make-up. Doch statt eines Hochzeitskleids trug ich mein schwarzes Seidenkostüm, aus dem sie erfolgreich die Babymilch und das Blut entfernt hatte.
    Das Kostüm war zu meiner Uniform in Schemaja geworden, die Kleidung, die meine Identität darstellte, der Beweis, dass ich ein Leben gelebt hatte. Wichtiger noch war: Es war für mich das Symbol und die Erinnerung, dass ich die volle Absicht hegte, in dieses Leben zurückzukehren. Weil ich die Möglichkeit, dass ich tot war, nicht akzeptieren konnte und wollte.
    Es heißt, die erste Stufe der Trauer ist das Leugnen, der entscheidende Überlebensmechanismus, der die Hinterbliebenen davor schützt, einen Verlust allzu schwer zu nehmen, und ihnen ermöglicht weiterzuleben. Das gilt in gleichem Maße für die Trauer der Toten um sich selbst und um die Hinterbliebenen. Nana und Luas wollten, dass ich dies akzeptierte. Ich war lediglich bereit, den beiden einen Gefallen zu tun und auszuharren, bis ich von weiß Gott welcher Krankheit geheilt sein würde, die von meinem Verstand Besitz ergriffen hatte.
    Diese Strategie half mir, zurechtzukommen und nicht durchzudrehen – ja, auch im Leben nach dem Tod kann man durchdrehen. Doch sie half nicht gegen mein verzweifeltes Verlangen nach Sarah, das mich in jedem Moment zu vernichten und um den Verstand zu bringen drohte, egal, ob ich tot oder lebendig war. Wo steckte sie? Ständig machte ich mir Sorgen. Wer kümmerte sich um sie? Bo war ein großartiger Vater und wusste, was zu tun war, doch er war nicht ich. Er wachte nicht von alleine nachts dreimal auf, um sie wieder zuzudecken, nachdem sie sich freigestrampelt hatte. Er konnte an ihrem Weinen nicht erkennen, ob sie Hunger, eine volle Windel, Bauchschmerzen oder Langeweile hatte. Er kannte nicht die Telefonnummern vom Kinderarzt und dem Giftnotruf auswendig. Er las nicht die Inhaltsstoffe und Nährwerte der Sachen, die sie aß, oder die Beipackzettel ihrer Medikamente mit Wechsel- und Nebenwirkungen. Wenn er ihr etwas zum Anziehen kaufte, dachte er nicht darüber nach, ob sie damit das hübscheste Kind in der Tagesstätte sein würde. Und er führte am Wochenende nicht das

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