Was danach geschah
betreten hatte, spürte ich die Masse an Menschen, die in geisterhafter Stille umherhuschten. Körper streiften meine Hüften und Schultern, doch ich hielt mich an Luas’ Warnung, nicht meine Hand nach ihnen auszustrecken. Auf halbem Weg durch den Bahnhof hindurch konnte ich allerdings der Versuchung nicht widerstehen, unter der Augenbinde hindurchzuspähen.
Was ich sah, lässt sich nur schwer beschreiben.
Der Bahnhof war nicht voller Menschen, sondern vielmehr voll von deren Erinnerungen. Tausende von flimmernden Energiekugeln schwebten wie Sterne am Nachthimmel durch die Luft. Jeweils eine Kugel, in der grellbunte Blitze und Lichtbögen wie bei elektrischen Entladungen zuckten, barg die Gedanken, Empfindungen, Bilder und Gefühle eines gesamten Lebens in sich. Dies waren die nackten Erinnerungen, nicht die geschönten, die wir uns bei einer Tasse Kaffee erzählen oder auch, etwas ehrlicher, unserem geheimen Tagebuch anvertrauen. Es war das Leben selbst, wie es von denen, die es gelebt hatten, erfahren und erinnert wurde. Als ich eine Kugel betrachtete, trat ich in direkten Kontakt mit den darin enthaltenen Erinnerungen, die nicht durch die filternden Gedanken eines anderen Menschen geschützt wurden. Damit kamen sie mir wie meine eigenen Erinnerungen vor.
Plötzlich durchlebte ich wie eine Charakterdarstellerin, die sich aneinandergefügte Szenen aus all ihren Filmen ansah, die Erfahrungen von Menschen, die ich überhaupt nicht kannte, doch die in realer Weise ich zu sein schienen. In dem einen Moment sitze ich in einem Ausbeutungsbetrieb auf Saipan an einer Nähmaschine, als ich zu einer anderen Kugel blicke, steige ich auf den Steg eines Kornsilos in Kansas City. Beim Blick auf wieder eine andere Kugel fahre ich auf dem Rücksitz eines Taxis durch die Straßen von Bagdad, dann stehe ich am Ruder eines Schleppnetzkutters in der stürmischen See vor Neufundland, durchstreife einen Weingarten in Australien, fahre in einem Kohlenschacht in Sibirien einen Schaufellader, köpfe in Ruanda einen Tutsi-Jungen mit einer Machete und küsse in Montreal einem Geliebten auf den Hals. Ich war mehr als eine bloße Zuschauerin dieser Ereignisse. Es waren meine Finger, die sich in den Stoff verkrampften, der unter der Nadel der Nähmaschine durchrutschte; ich war es, die im Staub des trockenen Weizens hustete; es war mein Körper, der zur Seite kippte, als wir einem die Straße überquerenden Fußgänger auswichen; ich war es, die meiner Mannschaft an Deck die Befehle zubrüllte und die Angst in ihren Augen sah, als die Wellen über den Bug schwappten; ich war es, über die das warme Blut spritzte, als ich ein weiteres Mal mit der Machete auf den zuckenden Körper hieb; und ich war es, die leise flüsterte, während ich mich den Wünschen meines Geliebten hingab. Fremde Erinnerungen durchströmten mich, als würde ich verwirrt und verloren aus einer mehrere Leben überdauernden Amnesie erwachen. Ich hielt es nicht mehr aus, zog mir die Augenbinde wieder über die Augen und ließ mich von Luas führen, bis wir schließlich den Bahnhof auf der anderen Seite verlassen hatten.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er, als die Türen hinter uns ins Schloss fielen.
Am ganzen Körper zitternd, brachte ich kein Wort heraus.
»So«, sagte er, »du kannst die Augenbinde wieder abnehmen. Setz dich.«
Wir befanden uns in einem abgelegenen leeren Flur des Bahnhofs, wo wir uns auf eine Bank setzten. Luas strich mir lächelnd die Haare aus den Augen. »Ich wusste, du würdest darunter hervorlugen. Du gehörst nicht zu denjenigen, die sich an Regeln halten, selbst wenn sie dir nützen würden.« Er blickte zu den Türen, durch die wir gerade getreten waren. »Du siehst sie als diejenigen, die sie sind, Brek Abigail Cuttler. Du hast die Gabe.«
Ich konnte seine Worte kaum begreifen. Ich hatte das Gefühl, einen kurzen Blick auf die Welt geworfen zu haben, nachdem ich auf einer einsamen Insel ohne Musik, Bücher, Fernseher oder Landkarten aufgewachsen war. Ich wollte mehr sehen. Ich musste mehr sehen. Ich erhob mich und wandte mich zur Tür.
»Noch nicht«, warnte Luas. »Es ist noch zu früh. Du bist nicht bereit.«
Ich griff zur Türklinke.
»Nein, Brek«, ermahnte mich Luas streng. »Du musst genau tun, was ich sage, sonst verlierst du, wer du bist. Verstehst du?«
»Wer bin ich, Luas?« Ich war verwirrt und fühlte mich verloren. »Oder sollte ich sagen: Wer war ich?« Ich zog an der Tür.
Luas zupfte am leeren rechten Ärmel
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