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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Wie auf Kommando blieben die Autos mit quietschenden Reifen stehen.
    »Wo seid ihr?«, schrie ich aus voller Kehle. »Warum will mir niemand helfen?«
    Ich kletterte auf das Dach eines der Autos, um einen besseren Überblick zu haben. Ungläubig sah ich zu, wie sich der Verkehr in beide Richtungen durch die wechselnden Jahreszeiten staute. Bei einigen Autos waren die Fenster nach unten gekurbelt, bei anderen geschlossen, Scheibenwischer und Abblendlichter waren ein- oder ausgeschaltet. Zwei Streifenwagen der Polizei rasten mit Blaulicht und Sirene auf die Szene zu, doch Polizisten stiegen nicht aus. Nur die Kühlerhauben zeigten drohend in meine Richtung.
    Schluchzend brach ich auf dem Autodach zusammen. Ich konnte nichts anderes mehr tun. Eine solche Angst hatte ich nur einmal zuvor gehabt, als Kind in der Notaufnahme des Tyrone Hospital, als mich die Krankenschwestern auf eine Rolltrage gelegt und die Kühlbox mit meinem abgetrennten Arm neben mich gestellt hatten. Bis zu diesem Moment war ich überraschend ruhig geblieben. Ich hatte Opa Cuttler geglaubt, als er mir, das Gaspedal seines Pick-ups durchgedrückt, auf dem Weg ins Krankenhaus versprochen hatte, ich bräuchte nur meine Augen zu schließen, damit alles wieder in Ordnung käme. Doch als sie mich den Flur entlangschoben und ich die Angst und die Tränen auf dem Gesicht meines Großvaters sah, packte mich der Schrecken. Die Rollbahre krachte durch die Schwingtür und verfrachtete mich in die alptraumhafte Szenerie eines OPs. Die Pfleger schlitzten meine Kleider auf, stießen mir Nadeln in die Venen und nahmen den abgetrennten Arm aus der Kühlbox, um ihn wie eine Jagdtrophäe nach oben zu halten. Zuerst wirkte der Arm unecht: Die Haut war schleimig und spülwassergrau, der weiße Ellbogenknochen, mit Blut und Kuhdung verschmiert, ragte heraus, die Finger – meine Finger – waren zu einer grotesken Faust geballt. Ich kämpfte gegen die Krankenpfleger an, bis sie es schafften, eine Narkosemaske über meinen Mund zu legen, und ich mein Bewusstsein verlor.
    Das Bewusstsein zu verlieren … das war alles, was ich mir jetzt erhoffte, als ich heulend auf dem Dach eines Wagens mitten auf der verstopften Washington Street zusammenbrach. Aber es war mir nicht vergönnt. Ich stand an diesem ersten Nachmittag in Schemaja auf dem Wagendach, bis sich die Sonne über mir in vier unterschiedliche Sonnen teilte, eine für jede Jahreszeit. Jede Sonne ging an unterschiedlichen Stellen über den Bergen zu unterschiedlichen Zeiten unter, und sie verwandelten den Himmel in ein flammendes Meer aus Pink und Gold. Untröstlich kletterte ich vom Wagen und ging nach Hause zurück. Der Verkehrsstau löste sich auf, als die Autos weiter ins Nichts fuhren.
    Als ich nach Hause kam, hörte ich eine Stimme.
    »Es tut mir leid, mein Kind«, sagte Nana Bellini. Sie saß in einem Schaukelstuhl auf der vorderen Veranda und genoss den schönen Abend, als wäre sie gerade zum Essen vorbeigekommen. Jetzt war ich mir sicher, dass man mich bald einsperren und mir Beruhigungsmittel verabreichen würde. Ich war offensichtlich geistesgestört. Ich unterhielt mich mit ihr, wartete aber darauf, fortgebracht zu werden.
    »Wie war deine Fahrt?«, fragte ich, um mich ihrer »Alles ist normal, und wir sind glücklich, hier zu sein«-Haltung anzupassen.
    »Wir sind nicht da«, antwortete sie.
    »Wo sind wir nicht?«
    »Erinnerst du dich, als du ein kleines Mädchen warst und dein Zimmer sich in einen Palast verwandelte und Ritter auf großen weißen Pferden unter deinem Fenster vorbeiritten?«
    »Wer bist du?«
    »Erinnerst du dich, Kind? Du hast so getan, als würdest du in langen, wallenden Kleidern daherschreiten, und von dem Prinzen im Nachbarschloss geträumt. Du hast eine Welt innerhalb der für dich erschaffenen Welt erschaffen. Du hast den Himmel gemalt, die Mauern gebaut und die Räume eingerichtet. Wie eine kleine Gottheit hast du mit nichts als deiner Vorstellung ein Land erschaffen. Doch als du älter wurdest, fandest du die bestehenden Strukturen von Zeit und Raum überzeugender und hast deine eigene Schöpfungskraft zugunsten der Schöpfungen anderer Menschen vernachlässigt. Doch deine schöpferische Kraft war nicht verloren, Brek. Die geht nie verloren. Es ist am Anfang völlig normal, dass du die Orte wieder erschaffst, die dir lieb waren.«
    »Wo sind mein Mann und meine Tochter?«, wollte ich wissen. »Wo sind all die Menschen?«
    Nana

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