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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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war von menschlicher Gestalt und Größe, hatte aber weder Haare noch ein Gesicht und wies auch sonst keine Besonderheiten auf. Haissem blieb sitzen, während das Wesen kurz vor ihm verweilte, bevor es geräuschlos in das dunkle Innere des Steins zurückkehrte. Als das Zittern erstarb, erhob sich Haissem von seinem Stuhl und nahm, in der Mitte des Raumes stehend, die Arme in einem großen Bogen seitlich nach oben. Die Energie der Wände und des Bodens pulsierte heftig und drang aus allen Richtungen auf ihn ein, schien den Raum um ihn wie einen implodierenden Stern zusammenzudrücken. Die Schockwelle, die ihn erfasste, ließ ihn in der gleichen Sekunde verdampfen. In dem Vakuum blieb nur seine Stimme zurück, die wie eine riesige kosmische Detonation durch den Saal hallte: »Ich präsentiere Tobias William Bowles … Er hat entschieden!«
    Im Gerichtssaal wurde es dunkel. Kein Licht. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Dann verschwand auch der Saal.
    Was nun geschah, erschütterte mich bis ins Mark. Ich war nicht nur Zeugin der Gerichtsverhandlung von Toby Bowles’ Seele, sondern verschmolz mit seinen Erinnerungen. Ich wurde selbst zu Toby Bowles und lebte sein Leben genauso, wie er es gelebt hatte. Wie zuvor, als ich zwischen den Seelen in der Bahnhofshalle gewandelt war, hörte Brek Cuttler auf zu existieren.
    Ich überquere einen Feldweg in einem Militärlager im Zweiten Weltkrieg. Mein Körper fühlt sich schwer, angespannt und müde an, mein Gesicht dick, rau und schmutzig. Ich habe einen Schnurrbart und im Mund einen unbekannten Geschmack wie nach einem ersten Kuss. Meine kräftigen Arme – es sind jetzt zwei – fühlen sich stark, aber losgelöst an, als würde ich eine Maschine bedienen. Und in mir wütet eine Aggression, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe, eine erhöhte Wachsamkeit für meine Umgebung und andere Menschen. Meine Gedanken und Reaktionen rasen, sind eher analytischer Natur, meine Gefühle und meine Fähigkeit, zwischen den Zeilen lesen zu können, gedämpft und ungenutzt. Der Gestank, den ich verströme, ist gleichzeitig tröstend und unangenehm. Mein Kopf brummt von einem Kater.
    Ich trage eine schmutzige grüne Armeeuniform und neue schwarze Stiefel. Dies ist mein zweites Paar Stiefel in diesem Monat – das weiß ich zwar, aber ich weiß nicht, woher. Ich weiß auch, dass ich so viele Stiefel haben kann, wie ich will, und dass es genug Stiefel gibt, um zwei Armeen damit auszustatten. Es sind hübsche glänzende Stiefel, schwarz und warm, doch hier in Saverne – auch etwas, das ich irgendwie weiß: der Standort des Lagers – kann ich sie nicht sauberhalten. Der Staub raubt ihnen den Glanz, sobald man sie anzieht, und hier gibt es nichts als Staub, der die Sonne verdunkelt und die Farben verblassen lässt. Alles ist staubig braun: die Kleider, die Zelte, die ehemals weißen Antragsformulare. In Saverne schmeckt das Essen braun, das Wasser wäscht braun, die Sterne funkeln braun, die Luft riecht braun, und wenn die Toten hier in der Leichenhalle eintreffen, tropft ihr braunes Blut auf den braunen Boden. Asche zu Asche, Braun zu Braun. Ich träume sogar in Braun. Das Einzige, das sich vom Braun in Saverne absetzt, ist das Grün der Gier.
    Während ich den Feldweg überquere, überlege ich, ob ich beim Leiter der medizinischen Versorgung den Preis drücken oder ihm ein faires Angebot machen und ihn in dem Glauben lassen soll, dass ich ihm einen Gefallen tue, wenn ich seine Sonderlieferung auf dem Schwarzmarkt verkaufe. Doch als ich mitten auf dem Weg bin, ruft jemand: »Pass auf, Toby.«
    Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie ein olivgrüner Armeelaster, eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf mich zurast. Der Staub wirkt einen Augenblick lang überrascht, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden. Mit einem kräftigen Sprung nach vorne in meinen neuen schwarzen Stiefeln bringe ich mich in Sicherheit und klopfe Davidson als Dankeschön auf die Schulter.
    »Du musst vorsichtiger sein, Toby«, warnt er mich. »Du bringst dich sonst noch um.«
    »Ich? Mich umbringen lassen?«, erwidere ich. »Jedenfalls nicht von so einem dämlichen Laster. Um mich erledigen zu lassen, besorge ich mir ein französisches Mädchen.«
    Davidson bewacht den Zugang zu einem braunen Zelt, das einmal olivgrün war. Der von der Straße herangewirbelte Staub vor der Plane sieht aus wie eine Miniaturabbildung der Schneewehen auf den Bergpässen Richtung

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