Was danach geschah
als würde er auf dem Boden in seinem Wohnzimmer sitzen und ein Möbelstück zusammenbauen. Er schien überhaupt nicht zu verstehen, dass er den Anweisungen folgte, wie er Millionen von Menschen töten könnte. Das war absurdes Theater in Reinform. Wenn nach einem Atomkrieg eine andere Rasse die Erde bevölkern und zufällig eine Aufnahme davon sehen würde, würden sie es nicht glauben. Die Menschheit, die bereit ist, sich auszulöschen, nur um für Gerechtigkeit zu sorgen. Unglaublich. Ist das nicht offensichtlich? Ich musste etwas tun. Der Countdown für das Ende der Welt hatte begonnen. Wir waren noch vier Minuten davon entfernt.«
Ich will ehrlich nicht wissen, was als Nächstes passierte. Karen ist so entrüstet, dass ich befürchte, sie hätte die beiden Soldaten angegriffen. Doch ich bin ihre Anwältin und habe keine Wahl. »Was hast du dann getan?«, frage ich.
»Ich habe ihn geschüttelt.«
»Du hast ihn wirklich nur geschüttelt? Du hast ihm dabei nicht etwa das Genick gebrochen?«
»Das ist nicht lustig, Brek«, erwidert Karen.
»Ich wollte nicht lustig klingen. Ich will mir nur Klarheit verschaffen. Wie habe ich mir ›geschüttelt‹ genau vorzustellen?«
»Ich habe ihn von hinten an den Schultern gepackt und ihn geschüttelt. Ich wollte ihn aufwecken. Genau das habe ich dir doch gesagt. Sie waren wie in Trance. Sobald sie den Fahrstuhl besteigen, um nach unten in den Silo zu fahren, setzen rationale Gedanken und Moral aus, und sie geraten in Trance. Jemand muss sie aufwecken.«
»Hast du sie verletzt?«
»Natürlich nicht«, höhnt Karen. »Sieh mich an. Ich wiege knapp über fünfzig Kilo. Diese Typen sind beide über eins achtzig groß. Er hat nicht mal gemerkt, dass ich ihn schüttle. Als wäre ich gar nicht da, Brek. Er ging seine Checkliste durch, betätigte Schalter, bestätigte immer wieder Zündcodes, prüfte Messgeräte und Monitore. Als ich einen Tag vorher mit ihm zusammen war, spielte er mit seinen beiden kleinen Kindern in der Kindertagesstätte der Kapelle, tollte mit ihnen lachend über den Boden und nahm sie in die Arme. Aber unten im Silo verwandelte er sich in eine Maschine – eine Todesmaschine. Das war beängstigend. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Als ich es nicht schaffte, ihn aufzuwecken, trat ich vor ihn. Ich nahm die Checkliste zur Seite und packte ihn an den Handgelenken. ›Brian‹, sagte ich und blickte in seine Augen. ›Ich bin’s, Karen. Wach auf, Brian, wach auf. Das kannst du nicht tun. Du kannst nicht Millionen von Menschen töten. Selbst wenn du überlebst, wirst du dir das nicht verzeihen können. Sie sind Menschen wie du und ich. Sie sind Mütter und Väter und kleine Kinder wie deine. Sie haben Familien wie du und ich. Sie haben Träume. Bitte, Brian, wach auf‹, flehte ich.«
Karen starrt in die Luft, während sie die Situation noch einmal durchlebt. Der Schmerz auf ihrem Gesicht ist greifbar. Ich denke an Bo und Sarah, an meine Eltern und Großeltern. Tränen treten mir in die Augen. Jetzt verstehe ich sie. Sie hat mich wachgerüttelt.
»Was hat er gemacht?«, frage ich.
Karen sieht mich ernst an. »Es war furchtbar, Brek. Er schob mich so kräftig zur Seite, dass ich auf dem Boden landete. Dann schnallte er sich ab, zog seine Waffe – sie müssen eine tragen –, stellte sich über mich und richtete die Waffe mit beiden Händen auf mich. ›Raus hier!‹, schrie er mich mit wildem Blick an. ›Du störst bei der Installierung einer Nuklearrakete! Ich bin befugt, tödliche Gewalt einzusetzen! Jetzt mach, dass du hier verschwindest, sonst erschieße ich dich!‹«
»Oh, mein Gott, Karen«, sage ich nur.
»Ich sah zu Sam rüber, ob er mir helfen würde, aber er drehte sich nicht einmal um. Er ging einfach seine Checkliste weiter durch und bereitete die Sprengköpfe und Raketen vor. Bevor ich vom Boden wieder aufstehen konnte, stürmten zwei Sicherheitspolizisten mit gezogenen Waffen durch die Tür. Es war vorbei. Sie legten mir Handschellen an und führten mich nach draußen. Ich wurde ein paar Stunden lang unter der Erde festgehalten, bis FBI- und CIA-Agenten eintrafen. Sie brachten mich am Abend mit dem Flugzeug hier nach Leavenworth und haben mich seitdem verhört. Sie halten mich für eine Spionin oder Doppelagentin, oder so was. Das ist genauso absurd. Offenbar war das Ganze ein falscher Alarm, und es wurde keine nordkoreanische Rakete gezündet, sonst würden wir uns jetzt hier nicht unterhalten.«
Ich blicke Karen mit sperrangelweit
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