Was danach geschah
geöffnetem Mund an. »Ich bin froh, dass er dich nicht erschossen hat.«
Karen streicht sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich auch. So, das ist also passiert. Wirst du meinen Fall übernehmen?«
Mein schockierter Blick verwandelt sich langsam in ein bewunderndes Grinsen. So verrückt die Sache auch klingt, hat Karen alles für ihre Überzeugung riskiert. »Also«, beginne ich, »auf dem Flug hierher dachte ich an mindestens zwanzig verschiedene Möglichkeiten, was dich wegen Hochverrats in den Knast gebracht haben könnte, aber nicht an Atomsprengköpfe. Wie du gesagt hast, Ärzte gehen in Krankenhäuser, Anwälte in Gefängnisse und Priester scheinbar in Raketensilos.«
»Scheint so«, erwidert Karen stolz.
»Aber es besteht immer das Risiko, dass wir dem Geschehen zu nahe kommen und uns mit der Krankheit unserer Patienten anstecken.« Ich strecke die Hand aus und ergreife die von Karen, so dass die Aufseherinnen gezwungen sind, wieder ans Fenster zu klopfen. Es ist mir egal. »Ja, Karen«, sage ich. »Natürlich übernehme ich deinen Fall.«
An all das erinnerte ich mich, während ich in Luas’ Büro saß und auf die Ankunft des neuen Antragstellers wartete. Luas schwieg mittlerweile. Er hatte sein Ziel erreicht, mich so tief in das Geheimnis meines eigenen Lebens zu verwickeln, dass ich mich wahrscheinlich nicht mehr in dem Leben einer anderen Seele verlieren konnte. Das dachte ich zumindest.
Eine dritte Flamme leuchtete in dem dunklen Raum auf, als Luas ein Streichholz entfachte, um seine Pfeife anzuzünden. Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und das gesichtslose Wesen in grauer Robe aus dem Gerichtssaal erschien. Mit unterwürfiger Stimme fragte es, ob wir bereit seien.
»Ja«, antwortete Luas und stieß eine Rauchwolke aus. »Ich glaube, Miss Cuttler ist jetzt so weit. Bitte schicke Amina Rabun herein.«
15
Das Leben von Amina Rabun zog in einem einzigen Moment vor meinen Augen vorbei und endete siebenundsechzig Jahre nach seinem Beginn in der Morgendämmerung eines Tages, der wie jeder andere Tag war. Unsere Befragung von Amina Rabun bestand nur darin, dass wir dasaßen und ihren Lebensbericht empfingen. Es brauchten keine Fragen gestellt und keine Kommentare abgegeben zu werden, weil die Erinnerungen von Amina Rabun in sich vollständig waren.
Trotzdem schnappte ich zunächst nur ein paar Fetzen ihres Lebens auf, wie ich es auch bei den Seelen in der Bahnhofshalle getan hatte. In gewisser Hinsicht war die Begegnung mit Amina Rabuns Seele in Luas’ Büro, als blätterte ich nur zufällig ein paar Seiten eines Romans durch. Ich verweilte bei einem Augenblick am Beginn ihrer Kindheit in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg, als ihr Vater sie an einem warmen Sommerabend auf einer Baumschaukel in den Armen hielt und ihr Lieblingslied sang. Alles in diesem Moment wirkte sicher und friedlich, so frisch und vielversprechend für ein hübsches, kleines Mädchen und ihren liebevollen Vater. Doch dann schummelte ich und blätterte zur letzten Seite des Buches vor, als Amina Rabun in den Vereinigten Staaten verbittert ihren letzten Atemzug tat. Wie hatte ihr Leben diese unglückliche Wendung nehmen können? Irgendwo in der Mitte der Geschichte fand ich einen bedeutungsvollen Abschnitt, wo sich unser beider Leben kurz gekreuzt hatte – als sie die Klage erhalten hatte, die ich im Namen von Bos Mutter gegen sie erhoben hatte, um eine Wiedergutmachung für die Verbrechen zu erwirken, die die Familie Schrieberg durch die Familie Rabun erlitten hatte. Dass ich diese Frau, über deren Leben bald geurteilt werden würde, kannte, war erschreckend – nicht nur wegen der Bedeutung des Jüngsten Gerichts, sondern auch weil ich bis in ihr Innerstes, in ihre Gedanken, Gefühle und Erinnerungen blicken konnte.
Wie gesagt, ich bekam nur kurze Kapitel, Schnappschüsse zu sehen. Amina Rabuns Leben, die Entscheidungen, die sie getroffen hatte, die Welt, in der sie gelebt hatte, oder die Menschen, die Teil ihrer Welt waren, würde ich erst verstehen, wenn ich alle Seiten von Anfang bis Ende gelesen haben würde. Dies würde dauern. Und in seinem Bemühen, mir dabei zu helfen, mein Leben von dem anderer Seelen zu trennen, hatte Luas es geschafft, mich neugieriger auf mein eigenes zu machen, von dem ich gerne noch einzelne Kapitel gelesen hätte. Ich hatte keine Schwierigkeiten, mich von Amina Rabun zu distanzieren, zumindest am Anfang nicht. Unser Treffen dauerte gleichzeitig einen winzigen Augenblick und ein ganzes Leben.
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