Was danach geschah
entweihte. Die Geschichte von Noah ist die Geschichte von Gottes Bedürfnis nach dem Menschen, Brek, nicht dem Bedürfnis des Menschen nach Gott. Sie erklärt auch, warum, weil wegen dieses göttlichen Bedürfnisses die Möglichkeit für das Böse zugelassen werden muss, damit es auch die Möglichkeit für Liebe gibt. Sie erklärt, warum im Anbeginn der Zeit eine Schlange im Garten Eden lebte und warum sie sich bis zum Ende aller Zeiten um unsere Füße schlängeln wird.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.
»Sieh mal. Was sich in diesen vierzig Tagen änderte, war das Wesen der Beziehung Gottes zum Menschen, nicht das Verhältnis des Menschen zu Gott«, erklärte er. »Gott änderte seine Sichtweise. Wir haben unsere nicht geändert. Denk einmal darüber nach. Die Menschheit hat einen schrecklichen Preis bezahlt, aber wir haben gewonnen. Jahwe erkannte das Problem in dem Moment, in dem sich das Wasser zurückzog und das Opferfeuer angezündet wurde. Durch die Bestrafung des Menschen für seinen Ungehorsam und Gottes Abwendung zerstörte die Sintflut auch die Liebe. Es ist wichtig, dass du das verstehst, Brek. Damit wahre Liebe bestehen kann, muss es auch die Möglichkeit geben, nicht zu lieben. Wenn Liebe verlangt und erpresst wird, wird sie zu Angst, und Angst ist das Gegenteil von Liebe.
So hatte Jahwe eine schicksalsträchtige Entscheidung getroffen. Er hätte die Möglichkeit der Sünde akzeptieren können, um den höheren Preis der Liebe zu erhalten, oder er hätte die falsche Anbetung der Geschöpfe, die vor Schreck nichts anderes tun konnten, aushalten müssen. Er tat Ersteres und schenkte der Menschheit die Freiheit der Entscheidung. Unser Verständnis für diesen Akt ist so entscheidend, dass Jahwe die Brechung des Lichts in die vielen Farben des Regenbogens als ewiges Symbol für unsere Freiheit erwählte, verschiedene Wege gehen zu können. Egal, wie weit wir uns entfernen, egal, wie sehr es weh tut – uns selbst oder auch Gott.«
Luas kehrte auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück.
»Wir alle sind Erben dieses Versprechens, Brek. Wir alle, einschließlich Amina Rabun. Doch dieses Versprechen ist sowohl ein Versprechen als auch ein Fluch. Mit der Entscheidungsfreiheit geht die Verantwortung für die jeweilige Entscheidung einher. Der Gerichtssaal ist der Ort, wo diese Entscheidungen und die Verantwortung bewertet werden. So frage ich dich erneut: Wie sollen wir Amina Rabun präsentieren?«
21
Elymas sitzt auf dem Schaukelstuhl in Sarahs Zimmer und stößt sich mit seinem Stock an einer Kante ihres Kinderbettes ab. Er erwartet mich. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich muss Bo und Sarah wiedersehen. Er zeigt mir sein zahnloses Lächeln, als ich eintrete. Ich bin hier, um meinen Mann und meine Tochter zu sehen, doch ich habe das Gefühl, etwas Zwielichtiges zu tun, als würde ich Drogen kaufen.
»Soll ich dich zu ihnen bringen?«, fragt Elymas.
»Ja.«
Seine Augen weiten sich, und ich verschwinde in ihnen. Diesmal tauche ich an einem ruhigen Landfriedhof auf einem abfallenden Hügel wieder auf, der sich, im Gebet verneigt, an den bewaldeten Bald Eagle Mountain lehnt. Ich bin schon mehrmals hier gewesen. Dies ist der Friedhof in der Nähe des Hofes meines Großvaters, wo die Familie Cuttler ihre Toten beerdigt. Es ist ein hübscher Ort. Ein trauriger Ort. Die Sonne scheint an diesem Tag heiß vom Himmel herab, doch die Gräber haben kein Gefühl für die Sonne oder deren Hitze. Roteichen hüllen mit ihrem Requiem die Schlafenden ein, zeigen mit papierdünner Membran aus Chlorophyll, wie mühelos die Dunkelheit dem Licht überlegen ist. Doch die Schatten, die sich unter den Blättern bewegen, scheinen einer anderen Dunkelheit und einem anderen Licht zu entspringen. Sie flackern über die Steine und tanzen übers Gras, unabhängig von den sich wiegenden Bäumen oder den kleinen, im Wind flatternden Flaggen.
Am Ende einer Reihe gutgepflegter Gräber kniet ein über fünfzigjähriger Mann. Sein Haar fängt bereits an, lichter und sein Bauch dicker zu werden. Er ähnelt Bos Vater, Aaron, als ich ihn kennenlernte und er im Garten hinter seinem Haus Unkraut zupfte. Der Mann auf dem Friedhof hört, wie ich durchs Gras raschle, und erhebt sich. In seiner rechten Hand hält er eine kleine silberne Teetasse, in seiner linken eine schwarze Kippa. Die Tasse fällt auf den Boden, als er mich sieht, zerschlägt auf einem Silbertablett, das am Fuß eines kleinen Granitgrabsteins steht. Ich
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