Was danach geschah
erkenne den Namen nicht. Durch den Aufschlag kippen eine silberne Teekanne und zwei weitere Tassen um. Der Inhalt ergießt sich aufs Grab.
»Brek?«
»Bo?«
Wir rennen um die Grabsteine herum, um uns zu umarmen.
»Ich wusste, du würdest heute kommen«, flüstert er.
Ich sehe ihn an. Er ist ausgemergelt, wirkt, als wäre er um Jahrzehnte gealtert, eine kraftlose Hülle des Mannes, den ich einst kannte. »Bist du krank?«, frage ich.
»Nein, warum?«
»Weil … weil du nicht gut aussiehst. Du siehst ganz anders aus als vorgestern, als wir uns trafen.«
»Vorgestern?«
»Ja, vorgestern, auf dem Spielplatz mit Sarah. Hast du das schon vergessen?«
Er hält mich auf Armeslänge von sich fern. »Das ist fünfzehn Jahre her, Brek.«
»Nein«, beharre ich. »Es war vorgestern. Du kamst gerade vom Laufen zurück, und wir haben Sarah auf die Schaukel gesetzt. Du hast mir gesagt, dass du bei David wohnst und dass dein Leben langsam wieder normal wird. Du hast eine Stelle in New York gesucht.«
»Ich erinnere mich. Das war vor fünfzehn Jahren. Schau …«
Er geht zum Grab zurück, zieht eine Ausgabe der Centre Daily Times unter dem Tablett hervor und zeigt sie mir. Die Überschrift lautet: »Mörder hingerichtet«. Das Datum: 21. Juli 2009.
Bo führt mich zum Stumpf einer großen Eiche am Ende der Gräberreihe, wo wir Platz nehmen. Er trägt eine faltige Stoffhose und ein Polohemd, das aussieht, als hätte er darin geschlafen. Sein Gesicht ist mit grauen Stoppeln übersät.
»Ich habe die Stelle in New York bekommen und wieder verloren«, erzählt er niedergeschlagen. »Seitdem konnte ich eine Stelle nie länger als ein halbes Jahr halten. Kein Fernsehsender wird mich je wieder nehmen. Sie haben Angst vor Menschen, die die Wahrheit sagen. Vielleicht habe ich ein bisschen zu viel getrunken und einige Abgabetermine verpasst. Aber Fernsehen ist reiner Schwindel, Brek, und Nachrichten sind es auch. Es ist alles nur Vorspiegelung falscher Tatsachen.«
Ich kann nicht glauben, wie sehr er sich verändert hat. Er ist paranoid und hat Zuckungen wie ein Drogenabhängiger oder Alkoholiker.
»Ich komme aber ganz gut zurecht. Ich bin jetzt Berater in einem Obdachlosenheim. Dort kann ich bleiben, bis ich mich etwas erholt habe. Es sind gute Menschen. Ich leite eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker und kümmere mich um ein paar Dinge. Vielleicht mache ich einen Dokumentarfilm. Ich habe mit ein paar alten Freunden beim Sender gesprochen. Die Leute glauben, Obdachlose sind Tiere, dabei sind sie wie alle anderen auch. Sie haben ein normales Leben geführt, bis irgendwas schieflief.«
Bo streckt seine Hand nach meiner aus, doch ich ziehe sie zurück.
»Habe ich mich so sehr verändert?«, fragt er.
Dies ist nicht der Bo Wolfson, den ich kannte, der
Mann, in den ich mich verliebte und der der Vater meiner Tochter ist, der brillante, entschlossene Reporter, der attraktive Sprecher der Morgennachrichten, der mit Piper Jackson von den Reklametafeln herablächelte. »Ja, sehr«, sage ich.
»Ich habe dich so vermisst, Brek«, sagt Bo. »Als ich hörte, dass Bowles, dieses Schwein, heute Morgen hingerichtet werden würde, musste ich einfach hingehen und zusehen. Keine Entschuldigung. Keine Reue. Nichts. Keiner seiner rechtsextremen Freunde der Elf hatte den Mumm herzukommen. Sie haben sich alle verkrochen. Es hat mir gefallen, ihn zittern zu sehen, als sie den Strom angestellt haben. Aber du hast ja auch alles gesehen. Ich wusste, dass du da warst. Ich habe dich in dem Raum gespürt.«
»Wer, Bo? Von wem redest du?«
»Otto Bowles. Bist du nicht deswegen hergekommen? Weil endlich alles vorbei ist und Gerechtigkeit geübt wurde? Jetzt kannst du in Frieden ruhen. Und ich werde neu anfangen. Mein Leben in Ordnung bringen. So alt bin ich ja noch nicht. Vielleicht mache ich auch wieder Nachrichten. Ich wäre ein toller Produzent. Ich habe mit ein paar alten Freunden beim Sender gesprochen …«
Oh, mein Gott, natürlich! Bo weiß, wie ich starb! Ich hätte ihn schon vorher fragen sollen, doch mein Besuch war so kurz. Dies ist meine Chance, es herauszufinden.
Ich packe ihn an den Schultern und schüttle ihn hektisch. »Bo, wurde ich ermordet? Wurde ich von Otto Bowles ermordet?«
In der Ferne steigt Elymas langsam die steile Straße herauf, die den Friedhof zweiteilt. Sein schwacher Körper passt sich jedem seiner kleinen Schritte an, bevor er den nächsten geht.
»Es ist Zeit«, ruft er mit trockener, abgehackter Stimme. »Es
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