Was danach geschah
blauen Himmel über die blendend weiße Oberfläche des Eriesees. Die plötzliche Schneeschmelze, die dank der Warmfront einsetzte, lässt die dicke Eis- und Schneeschicht auf dem See brechen. Dicke Eisschollen treiben den Niagara River hinunter und gegen die massiven Brückenpfeiler der Peace Bridge zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada. Wenn sich das Eis weigert, zu brechen und rasch weiter flussabwärts zu treiben, wird die Küstenwache Sprengstoff einsetzen, um den Stau zu beseitigen. Amina erkennt Männer, die, mit Seilen um ihre Taillen gesichert, über die schwimmenden Eisschollen gehen und lange Stäbe in die Spalten rammen, um die Schollen voneinander zu lösen.
Zwei Männer stehen Amina gegenüber und rauchen. Ihre Gesichter sind vom Schatten verhüllt, doch die Sonne lässt den Hut des kleineren Mannes wie eine graue Flanellfackel leuchten. Die Männer scheinen angeregt zu diskutieren. Einer von ihnen deutet auf eine Zeitung, die in der Mitte gefaltet ist. Amina rückt näher.
»Auf Wiedersehen, Kamerad«, sagt der Größere, der seine Zigarette über das Geländer schnippt.
Amina ist überrascht über diesen Ausdruck. Kamerad – ein Wort, das nur von Kommunisten verwendet wird. Plötzlich bekommt die Begegnung dieser beiden Männer etwas Geheimes und Gefährliches. Vielleicht sind sie Spione.
»Ja, den wären wir los«, sagt der Kleinere.
Beide lachen und gehen hinein zum Fahrstuhl.
Amina greift zur Zeitung. Auf der ersten Seite der Buffalo Daily News steht das Datum 6. März 1953 und die Überschrift »Stalin tot«. Ein scheinbar wohlwollender Diktator blickt Amina von dem Schwarzweißfoto entgegen. Sie lächelt über seinen Tod. Doch als sie liest, wie er starb, erstirbt auch ihr Lächeln schlagartig.
Ein Schlaganfall mitten in der Nacht? Und das beim Anführer derjenigen Truppen, die meine Familie und mein Land zerstört haben? Er hätte durch eine Kugel sterben sollen. Durch tausend Kugeln. Er hätte den langsamsten und qualvollsten Tod der Weltgeschichte sterben sollen. Aber die Nachricht ist trotzdem gut. Sehr gut. Und die Luft ist klar, der Himmel strahlend blau, die Sonne warm und der Tag voller Hoffnung. Mit Sicherheit befreit mich Stalins Tod von meinen Alpträumen, und vierundzwanzig Stockwerke unter mir wird mich ein Richter bald von den Fesseln einer Vernunftehe befreien.
Ein interessanter Zufall, findet Amina. George bat sie vor zwei Wochen, mit ihm zum Aschermittwochsgottesdienst zu gehen. Sie stimmte zu, versteht aber immer noch nicht, warum. Gab es eine Verbindung zwischen dem Tod des Bösen und einer Rückkehr des Glücks? Darauf hoffte sie jedenfalls schon lange. Amina hatte seit der Beerdigung ihres Vaters keine Kirche mehr betreten, auch nicht mit George, was ihn nur noch mehr verbitterte. George Meinert sehnte sich nach allen Insignien einer Familie, zu denen auch gehörte, dass seine schöne Frau am Sonntag in der Kirche, in der er getauft worden war, neben ihm saß. Amina verweigerte ihm nicht nur die körperliche Intimität einer Ehe, sondern auch solche kleinen Gefälligkeiten, die eine respektvolle Beziehung ausmachten.
Doch aus einem seltsamen Grund gab Amina am Tag vor Aschermittwoch, genau zwei Wochen vor ihrer Scheidung, nach. Vielleicht als Entschuldigung für die Zeiten ihrer Abwesenheit, die George so große Schmerzen bereitet hatten? Vielleicht, um seine Überzeugung zu widerlegen, dass sie, wenn sie vor einem Altar kniete, zu einem anderen Menschen werden und damit ihre Ehe retten würde? Oder vielleicht hatte sie angefangen, Gott zu vergeben? Doch der Aschermittwoch, der primitivste, makaberste Feiertag der Christen, war von einer völlig seltsamen Liturgie geprägt. Welche Eiseskälte die geflüsterten Worte des Priesters – »Denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren!« – ausstrahlten, um einem dann, als Erinnerung an seine grausame Botschaft, mit seinem Daumen, den er in die Asche der Palmzweige des vergangenen Jahres getaucht hatte, ein hässliches schwarzes Kreuz als Zeichen der Demütigung auf die Stirn zu malen.
Doch zu Aminas Überraschung war während des Gottesdienstes ein Wunder geschehen. Sie hatte an diesem Nachmittag eine so umstürzlerische Botschaft gehört wie nie zuvor in einer Kirche.
»In alter Zeit diente die Fastenzeit dazu, berüchtigte Sünder und Verbrecher, die aus der Kirche ausgeschlossen worden waren, mit der Gemeinde und Gott zu versöhnen«, sagte der Priester während seiner Predigt.
Während der
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