Was danach geschah
wurde, schnappte sie sich ihr Erbe und verschwand. Danach hörte Amina nur gelegentlich von ihr und wusste wenig über ihr Leben. Der Anruf an diesem kalten Samstag im Februar ist wie ein Schock für sie.
»Was will sie, Albrecht? Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens!«, ruft Albrecht zurück. »Barbara hat heute Morgen einen Jungen auf die Welt gebracht! 3316 Gramm! Sie nennt ihn Otto Rabun-Bowles! Du bist Großmutter oder Großtante, oder so was, Amina! Hier, sprich mit ihr!«
Der Gerichtssaal erscheint wieder. Das gesichtslose Wesen aus dem Monolithen steht neben Hans Stössel.
»Eine Entscheidung wurde getroffen«, verkündet das Wesen gefühllos und mit der hohlen Stimme eines Prüfers, der sagt, die Zeit sei abgelaufen. Die Präsentation von Amina Rabun ist beendet, ohne dass eine vollständige Darstellung ihres Leben gezeigt wurde.
25
»Wir gehen heute Abend aus«, sagte Nana zu mir.
Wir saßen am späten Nachmittag im Arbeitszimmer ihres Hauses. Sie las, man glaubt es kaum, den Farmer’s Almanach von 1897, ihrem Geburtsjahr. Ich stickte einen Weihnachtssocken für Sarah und schob gerade eine Nadel durch den Stoff.
»Wohin?«, fragte ich. Wir waren noch nie ausgegangen.
Ich hatte den Socken begonnen, als ich mit Sarah schwanger gewesen war, und wäre bis zu ihrem zweiten Weihnachtsfest fertig geworden. Ich hatte die Arbeit daran wieder aufgenommen, als ich nach Hause gegangen war, um Elymas nach der Präsentation von Amina Rabun zu treffen. Ich wollte, dass er mich Bo wiedersehen ließ, doch Elymas war nicht aufgetaucht. Meine Auflehnung gegen Sarahs Tod hatte eine Bühne gefunden, indem ich etwas für Sarah tat. Ich hatte beschlossen, so zu tun, als lebte sie noch – als lebten wir beide noch. Jeden Morgen hatte ich ihr Fläschchen vorbereitet und das Badewasser einlaufen lassen. Ich hatte ihre Kleider und ihre Bettwäsche gewaschen. Ich war zur Tagesstätte, dann zur Arbeit, am Abend zurück zur Tagesstätte und zum Supermarkt gefahren. Alle Orte waren leer gewesen. Geisterstädte. Der Zivilwagen der Polizei hatte seine Scheinwerfer aufblinken lassen und war wieder im Rückspiegel verschwunden, als ich weitergefahren war. Als die Einsamkeit zu stark geworden war, war ich zu Nana zurückgekehrt, im Gepäck den Socken, den ich fertigsticken wollte.
»Es ist eine Überraschung«, antwortete Nana, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. Dies war sogar das erste Mal, dass wir seit meiner Rückkehr sprachen. Mehrere Tage hatten wir verbracht, in denen wir schweigend aneinander vorbeigegangen waren.
»Ich glaube nicht, dass ich noch weitere Überraschungen vertrage«, widersprach ich.
»Elymas hat eine Schwäche für Überraschungen«, erwiderte Nana. »Das macht wohl einen Teil seines Charmes aus. Aber ich würde nicht allem vertrauen, was er sagt und tut.«
Ich sah sie an. »Sollte ich dir vertrauen?«
»Du solltest der Wahrheit vertrauen, mein Kind.«
Ich legte meine Stickarbeit zur Seite. »Und was ist die Wahrheit, Nana?«
»Die Wahrheit ist das, was dir ein Gefühl von Ruhe und Liebe vermittelt, mehr nicht.«
»Was du sagst, ergibt keinen Sinn.«
»Doch. Das ist der einzige Sinn. Die Wahrheit ist nie Wut oder Angst. Das sind Illusionen, in denen Elymas zu Hause ist.«
Ich griff wieder zu meiner Stickerei, bildete mit dem Faden eine Schlaufe und schob die Nadel durch den Stoff. Ich arbeitete gerade am Zeh eines Engels, der eine Trompete blies.
»Er hat behauptet, du würdest ihn einen falschen Propheten nennen«, sagte ich.
»Er hat auch behauptet, ich würde außer mir sein, aber das bin ich nicht. Du hast die Freiheit, falschen Propheten zu folgen, wenn du willst. Irgendwann entlarven sie sich ganz von allein. Die Wahrheit ist immer ganz nah.«
»Ich sah Bo und Sarah mit eigenen Augen. Ich hielt sie in meinen Armen.«
»Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Und du bist auf einer Karavelle gesegelt und durch Tara gegangen, und alles um uns herum wirkt so real. Aber es verschwindet alles. Gegenstände und Körper sind nicht real. Es sind Symbole, und Symbole sind unbeständig. Das Leben ist unbeständig.«
»Bos Leben wurde zerstört.«
»Das behauptet Elymas. Aber wer kann das schon sagen? Ist Bo näher an der Wahrheit, wenn er in einem Obdachlosenheim arbeitet oder vor einer Fernsehkamera sitzt?«
»Was ist mit ihr passiert? Was ist mit mir passiert? Was verheimlichst du mir?«
»Ich verheimliche dir nichts. Du bist diejenige, die die Wahrheit um sich herum nicht sehen will.« Sie
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