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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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ihrer Haut fehlte, gebrochene Knochen und zerfetztes Gewebe, das sich wie Speck in der Pfanne rollte, ragten heraus. Wo ihr rechtes Auge fehlte, prangte ein riesiges Loch, an der Stelle ihres Mundes standen zwei Reihen gebrochener Zähne ohne Lippen, Wangen oder Gaumen. Nur ein einzelner weißer Kieferknochen schien vor dem Ruß der Flammen verschont worden zu sein. Der Gestank verbrannten Fleisches durchdrang den Flur und jetzt auch mein Büro.
    »Bitte entschuldige mein Aussehen«, sagte das Mädchen durch die Tür hindurch. »Mein Tod war nicht sehr angenehm. Deiner auch nicht, wie ich sehe.«
    Ich blickte an mir hinab und sah mich, wie Mi Lau mich – und ich selbst mich bei meiner Ankunft in Schemaja – gesehen hatte. Nackt, drei Löcher in meiner Brust, blutüberströmt. Wieder öffnete ich die Tür. Mi Lau und ich blickten einander an, taxierten uns wie zwei Ungeheuer in einem Horrorfilm. Offensichtlich konnten wir nicht miteinander kommunizieren oder auch nur beieinander sein, wenn unsere Wunden alles waren, das wir sehen konnten. Deswegen spielten wir wie alle anderen auch bei dem Versteckspiel mit und sahen im anderen nur das angenehme Hologramm des Lebens, wie es unseren Wünschen und Vorstellungen nach gewesen sein müsste.
    In diesem gefilterten und gebrochenen Licht hatte sich Mi Lau plötzlich in ein wunderschönes junges Mädchen mit topasfarbener Haut, großen braunen Augen und langem, dichtem schwarzen Haar verwandelt, das, frisch, strahlend und rein, kurz davor war, zu einer jungen Frau heranzureifen. Sie trug ein hübsches rosafarbenes Kleid, das die Grausamkeit ihres Todes noch grausamer und unversöhnlicher machte.
    »Es tut mir sehr leid, dass dich meine Erscheinung verängstigt hat.« Sie sprach in dem rhythmischen, locker schwirrenden Gitarrenklang der Vietnamesen, doch irgendwie verstand ich ihre Worte, als lauschte ich einem versteckten Dolmetscher.
    »Nein, ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss«, wehrte ich ab. »Ich habe niemanden erwartet, und dann, na ja … stimmt, du hast mich erschreckt. Komm bitte rein.«
    Mi Lau setzte sich auf den Besucherstuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Ich schloss die Tür und kehrte an meinen Platz hinter dem Schreibtisch zurück.
    »Woher kennst du meinen Onkel Anthony?«, begann ich. »Er starb, bevor ich geboren wurde.«
    »Wir lernten uns während des Krieges kennen«, antwortete Mi Lau. »Und er ist auch einer meiner Mandanten.«
    »Mein Onkel steht hier vor Gericht? Kann ich ihn sehen?«
    »Ja, du kannst zu seiner Verhandlung kommen. Ich präsentiere seinen Fall jeden Tag.«
    »Der Richter beendet sie, bevor du fertig bist?«
    »Ja, wie die anderen.«
    »Das ergibt keinen Sinn«, erwiderte ich. »Warum führt man dann noch eine Verhandlung durch?«
    Mi Lau schwieg.
    »Wie habt ihr euch im Krieg kennengelernt?«, fragte ich schließlich. »Was für ein Mensch war er?«
    »Dein Onkel kam mit anderen Amerikanern in mein Dorf auf der Jagd nach den Vietcong. Die Vietcong hielten sich bei uns auf. Wir hatten keine andere Wahl. Meistens waren es Jungs. Sie ließen uns in Ruhe und taten uns nichts. Als die Amerikaner kamen, wurden sie erschossen, während sich meine Familie in einem Tunnel unter der Hütte versteckte. Meine Mutter ging immer als Erste hinunter, dann meine Schwester, ich und zuletzt mein Vater. Aber die Soldaten überraschten uns, und diesmal war ich die Letzte. Der Tunnel war eng, und wir mussten auf dem Bauch rutschen. Wir hörten die Maschinengewehre, die lauten Stimmen der Amerikaner und die Schreie der Vietcong-Jungs. Meine Schwester und ich hielten uns die Ohren zu, und uns schlotterten die Knie.«
    »Das muss schrecklich gewesen sein«, sagte ich.
    »Ja. Aber die Kämpfe dauerten nicht lange. Bald schon war alles ruhig, bis eine heftige Explosion den Boden erschütterte. Dreck fiel auf mein Haar, und ich hatte Angst, der Tunnel könnte einbrechen. Mein Vater sagte, die Amerikaner würden die Tunnel in unserem Dorf sprengen, und wir müssten schnell raus. Ich krabbelte zum Eingang, und in dem Moment sah ich deinen Onkel. Er kniete mit einer Granate in der Hand über dem Loch. Daran erinnere ich mich deutlich. Um seinen Hals hing ein Kruzifix, bei dem die rechte Seite abgebrochen war. Ich dachte noch, das sieht aus wie ein kleiner Vogel mit abgebrochenem Flügel. Ich lächelte ihn an. Ich war so naiv, dass ich dachte, die Amerikaner wären da, um uns zu helfen, weil sie unsere Freunde wären. Aber er lächelte nicht zurück.

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