Was dein Herz nicht weiß
bislang ungekannte Verzweiflung.
»Ja, das stimmt natürlich. Wenn wir das Land erst in zwanzig Jahren verkauft hätten, würde alles dir gehören. Aber mein Vater lebt noch, und ich will ihm sein Geld zurückzahlen.«
»Das ist ungerecht!« Hana sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Die Papiertür ließ sie offen stehen. Soo-Ja fragte sich, ob sie ihre Tochter vielleicht zu sehr verwöhnt hatte. Würde sie die Liebe ihrer Eltern je zu schätzen lernen?
Geduldig erhob Soo-Ja sich und schloss die Tür. Sie wollte nicht, dass die Gäste in ihr Zimmer sehen konnten.
»Meine Eltern bieten weiterhin an, zurückzuzahlen, was sie sich von deinem Vater geliehen haben«, erklärte Min, ohne von seiner Schüssel mit Doenjang -Suppe aufzuschauen.
»Was für einen beleidigenden Vorschlag haben sie jetzt schon wieder? Sie wollen dieselbe Summe zurückzahlen, ohne die Inflation zu berücksichtigen? Dafür kann man sich heute gerade mal einen Fernseher kaufen. Damals bekam man drei Häuser mit dem Geld!«
»Du kannst nicht das zurückbekommen, was du verloren hast.«
»Was meinst du damit?«
»Die Jahre, die du mit ihnen verbracht hast. Die wird dir das Geld auch nicht zurückbringen.«
»Ich war ihre Sklavin.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber du sprichst von meinen Eltern!«
»Du willst auch nach Amerika, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte er leise. Sie hörte den Kummer in seiner Stimme.
»Wenn es nach dir ginge, würden wir gleich morgen ins Flugzeug steigen, stimmt’s?«
»Du erlaubst es ja nicht«, zischte Min. »Du versuchst, uns von ihnen fernzuhalten.«
»Das ist nicht wahr. Außerdem wohnen meine Eltern auch nicht in meiner Nähe.«
»Es sind bloß vier Zugstunden.«
»Mein Vater ist zu krank zum Reisen. Ich sehe ihn so gut wie nie.«
»Aber du siehst ihn wenigstens ab und zu. Ich habe meine Eltern fast zehn Jahre nicht gesehen.«
Min tat so eifrig wie ein verschmähter Liebhaber. Er sprach oft über seine Pläne, zu seinen Eltern zu stoßen – Pläne, die Mins Vater weder unterstützte noch unterband. Wenn Soo-Ja die Gründe aufzählte, derentwegen sie nicht fahren konnten – Mins Eltern hatten sie hintergangen, sie wollte nicht mit ihnen leben, sie konnte ihre Eltern nicht verlassen – , entgegnete Min immer bloß: Aber es sind doch meine Eltern. In diesen Momenten wusste sie, dass er einfach nicht imstande war, schlecht von ihnen zu denken, egal, was sie ihm angetan hatten. Er bog sich die Vergangenheit zurecht und machte gedankliche Verrenkungen, um seine Eltern als Opfer hinzustellen und Soo-Ja – mit der er leben musste, die ihm geblieben war – als die Schurkin.
Doch die Idee setzte sich fest. Am nächsten Morgen war sie wieder da, im bitteren Kaffee, in den würzigen Udon -Nudeln. Sie zog an Soo-Jas Ohrläppchen und legte sich um ihre Fußknöchel.
»Du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn du nicht willst. Ich kann alleine bei Großpapa und Großmama wohnen«, sagte Hana.
»Sag doch nicht so was«, erwiderte Soo-Ja.
»Warum?«
»Weil ich darauf angewiesen bin, dass du mich brauchst.«
»Aber es ist doch Amerika!«, rief Hana wie ein Mantra. Soo-Ja verstand den Frust ihrer Tochter, die vermutlich nicht nachvollziehen konnte, wieso ihre Mutter ihr all das vorenthielt: sonnige Nachmittage, breite Straßen und Luft, so sauber, dass man sie in großen, übermütigen Schlucken trinken konnte. In Amerika hupten die Autofahrer nicht, niemand drängelte sich in der Schlange vor oder sprach schlecht über andere. In Amerika war jeder Tag ein Feiertag, selbst die Arbeitstage.
Wenn Hana einmal nicht über Amerika redete, fing Min davon an. Hatten sie miteinander vereinbart, Soo-Ja abwechselnd zu bearbeiten?
»Sie hat keine Flausen im Kopf«, sagte Min beim Mittagessen zu Soo-Ja. Es gab dünne Scheiben Rindfleisch mit scharfen Radieschenwürfeln. »Sie macht sich bloß Sorgen um ihre Zukunft. In der Schule läuft es nicht besonders gut.«
Wie unangenehm, Neuigkeiten über seine Tochter vom Ehemann zu erfahren!, dachte Soo-Ja. »Das wird schon wieder. Den Sommer über muss sie lernen.«
»In Amerika braucht man nicht gut in der Schule zu sein. Dort muss man nur lächeln und Hände schütteln können. Das kann Hana schnell lernen.«
»Hör mal, wenn sie wegen der Schule nach Amerika wollte, würde ich noch einmal darüber nachdenken. Aber du kennst Hana doch. Sie will in einem schicken Hotel am Swimmingpool liegen und einen Kennedy heiraten.«
»Na schön, dann fahren wir vielleicht ohne dich«,
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