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Was dein Herz nicht weiß

Was dein Herz nicht weiß

Titel: Was dein Herz nicht weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Park
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Verwandten, wollten in Wirklichkeit aber nach Japan in den Urlaub fahren. Einige aber hatten wirkliche Gründe, etwa ein krankes Kind oder ein hilfsbedürftiges Elternteil. Soo-Ja und ihr Vater hörten jedem aufmerksam zu. Und jedes Mal forderte der Vater seine Tochter auf, sich ein Urteil zu bilden. Er selbst wusste natürlich bereits, wem er Geld geben würde und wem nicht, aber er gab ihr das Gefühl, an der Entscheidung beteiligt zu sein. Soo-Ja hatte von ihrem Vater sowohl das Mitgefühl geerbt als auch die Fähigkeit, Lügner zu erkennen. Sie waren immer einer Meinung, und meistens hatten sie recht. Wenn Soo-Ja schließlich das Geld austeilte, kniete der Bittsteller vor ihr und nannte sie weise. So hatte sie ihre Kindheit verbracht.
    Als Soo-Ja endlich in Daegu ankam, war er schon tot. Sie saß im Zug, starrte auf die weiten Felder und weinte. Es war ihr nicht vergönnt gewesen, sich von ihm zu verabschieden. Während der Reise betete sie, der Zug möge ewig weiterfahren, nie anhalten, nie sein Ziel erreichen.
    Später saß sie steifgefroren im Taxi zum Haus ihres Bruders; es war die längste halbe Stunde ihres Lebens. Das Taxi hielt vor einem riesigen Wohnkomplex, der an ein Labyrinth erinnerte. Alle Häuser sahen gleich aus – weiß, mit kleinen Balkonen – und waren nur durch die großen dreistelligen Hausnummern zu unterscheiden. Das war also das neue, aufstrebende Daegu.
    Soo-Ja klopfte an die Wohnungstür ihres Bruders, und er öffnete selbst. Als sie ihm in die Augen sah, spürte sie einen Kloß im Hals. Hinter ihm klagten und heulten die trauernden Frauen, die wild die Arme in die Luft warfen. Soo-Ja und ihr Bruder sagten nichts. Sie blieben an der Tür stehen und umarmten sich, und als sie seinen warmen Körper spürte (er hatte die Statur des Vaters geerbt), kamen ihr die Tränen.
    Am Ende blieb Soo-Ja viel länger in Daegu, als sie geplant hatte. Es war immer etwas los, denn es gab so viele Leute, mit denen sie schon lange nicht mehr gesprochen hatte. Alle wollten sie sehen: entfernte Verwandte und Freunde der Familie. Sie sagten, mit Soo-Ja zusammen zu sein, wäre so gut wie mit ihrem Vater zusammen zu sein – sie hätte dasselbe Lächeln und strahlte dieselbe Wärme aus. So klapperte sie nach und nach alle Freunde in ganz Daegu ab und wurde zum öffentlichen Gesicht der Familie, während die Mutter zu Hause blieb und sich mit der Pfeife in ihr Zimmer und in ihr Schweigen verkroch.
    Min und Hana kamen zur Beerdigung, reisten aber danach sofort wieder ab. Min erklärte Soo-Ja, jemand müsse sich schließlich um das Hotel kümmern, und dagegen konnte sie kaum etwas vorbringen. Da wusste sie noch nicht, was in ihrem Mann und ihrer Tochter vorging. Sie wusste nicht, dass sie sich schon entschieden hatten. Später, wenn Soo-Ja anderen Leuten erzählte, was ihr Mann und ihre Tochter ihr angetan hatten, fragten diese immer: Warum bist du auch so lange in Daegu geblieben? Warum hast du ihnen die Gelegenheit dazu gegeben? Eigentlich ist alles deine Schuld, siehst du das denn nicht?
    Soo-Ja fühlte sich wohl in Daegu, und es gefiel ihr, dass die Menschen um sie herum trauerten. Sie alle zelebrierten den Verlust: ihre Brüder, ihre Mutter und sie selbst. Es gefiel ihr, dass die Mahlzeiten wie von Zauberhand vor ihr erschienen, dank zahlloser Freunde, die ihnen Essen brachten, und zwar nicht auf Plastiktellern, sondern auf echtem Porzellan, mit richtigem Besteck. Es gefiel ihr, dass sie in Daegu weinen konnte, wann sie wollte, ohne dass jemand sie bemitleidete – als wäre es ganz normal, beim Geschirrspülen in Schluchzen auszubrechen. Abends las sie wieder und wieder die Briefe, die ihr Vater ihr geschrieben hatte, und seine Buchstaben aus blauer Tinte verschwammen unter den Tränen, die darauftropften.
    Meine liebe Soo-Ja,
    sehr lange schon habe ich nichts mehr von dir gehört. Ich kann mir vorstellen, dass du viel im Hotel und mit Hana zu tun hast. Manchmal werde ich traurig, wenn ich daran denke, wie hart du arbeiten musst, und ich schäme mich, dass ich meiner Tochter kein besseres Leben bieten konnte. Alles, wofür ich gearbeitet habe – die Fabrik, das Unternehmen – , war dazu ausersehen, dir ein Leben im Wohlstand zu ermöglichen. Aber ich habe versagt.
    Es schmerzt mich, dass ich dir nicht mehr geben kann, denn ich habe nur noch so wenig. Alles, was ich dir noch schenken kann, ist meine Liebe, und das erscheint mir so unbedeutend, so gering. Meine Liebe kann dir keinen freien Tag bescheren und

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