Was dein Herz nicht weiß
Angst heulte und ihrem aufgestauten Kummer freie Bahn ließ.
Dann sah Soo-Ja, wie die Männer, die Chu-Sooks Körper getragen hatten, langsam zu Boden gingen, wie ein Tisch, dessen Beine nach und nach wegknickten. Einen Augenblick lang schien Chu-Sook in der Luft zu schweben, und Soo-Ja stellte sich vor, er würde in den Himmel auffahren. Plötzlich schien alles ganz still, und der Körper hob sich tatsächlich ein paar Zentimeter, als der letzte Träger fiel und ihn noch einmal gen Himmel hob. Doch dann setzte die Schwerkraft wieder ein, und Soo-Ja beobachtete, wie die Leiche donnernd zu Boden krachte. Chu-Sook würde seinem Erlöser heute anscheinend noch nicht gegenübertreten; er wollte lieber bei den anderen bleiben und in das Meer aus toten Körpern eingehen.
3
»Ich sehne mich mehr denn je nach Tiefgang in meinem Leben«, schrieb Soo-Ja an Min. »Ja, das ist genau das Wort, das ich meine: Tiefgang. Ich habe Tage voller Brisanz und Bedeutung erlebt und kann nicht mehr in ein sinnloses Leben zurückkehren. Mein Alltag ist so langweilig. Ich weiß, dass ich alles habe, was sich eine Frau meiner Herkunft nur wünschen kann – aufmerksame Dienstboten, handgenähte Kleider, ein Haus wie ein Tempel – und trotzdem fühle ich mich wie in einem goldenen Käfig. Mir ist klar, was passiert, wenn ich in Daegu bleibe: Ich werde niemals beweisen können, wozu ich tatsächlich fähig bin. Ich muss einfach Diplomatin werden.«
Soo-Ja lag reglos auf dem Boden und dachte darüber nach, warum sie Min so falsch eingeschätzt hatte. Wieso hatte sie ihn so schnell abgewiesen? Bei den Demonstrationen hatte er sein Leben riskiert, genau wie sie selbst. Sie hatten das gleiche erlebt – nur wenige Meilen voneinander entfernt. Hatte er an sie gedacht, als er den Kugeln auswich oder gegen die Panzerung eines Polizisten geschubst wurde? Er hatte sie doch nur um ein Rendezvous gebeten. Wenn sie einfach Ja gesagt hätte, wäre er aus der Gefahrenzone raus gewesen.
Komm zurück , flüsterte Soo-Ja. Wenn er kam, würde sie ihm das Rendezvous gewähren, das er sich so sehr gewünscht hatte. Sie könnten am abendlichen Fluss entlangspazieren und die Sternbilder betrachten. Wenn es kalt würde, könnte er ihr seinen Karo-Pullover leihen. Oder vielleicht würde er Soo-Ja auch um ihren bitten. Da begriff sie, dass es ihr nichts ausmachte, wenn sie selbst der starke Pol sein müsste. Es gefiel ihr, für Min da zu sein und sich um ihn zu kümmern, denn manchmal wirkte er wie ein Waisenkind. Wie hatte er es bloß geschafft, sich bis jetzt ohne ihren Schutz durchzuschlagen? Er war das absolute Gegenteil von Yul, der nichts und niemanden zu brauchen schien. Nicht einmal eine Frau, dachte Soo-Ja.
Min hatte Glück gehabt. Er war bei der großen Demonstration vor der Nationalversammlung gewesen, von der das Radio mehr als hundert Tote und tausend Verletzte gemeldet hatte. Aber ihm war nichts passiert. Das hatte er ihr in seinem Antwortbrief berichtet. Er hatte ihr auch mitgeteilt, dass er schon sehr bald nach Daegu zurückkommen würde. »Meine Arbeit hier ist getan«, schrieb er vollmundig. »Syngman Rhee ist abgesetzt worden. Der Freiheitskampf unserer Nation – der damit begann, dass wir uns von den japanischen Besatzern befreiten, und weiterging, indem wir Krieg gegen die Kommunisten führten – ist mit dem Sieg gegen die Diktatur nun zu Ende gegangen. Ich habe mit den Menschen gesprochen, die mit mir an der Straße standen und zusahen, wie der Autokorso des Präsidenten vorüberfuhr. Und weißt du, was erstaunlich war? Manche weinten. Ich weiß nicht, ob sie an die schlimmen Dinge dachten, die er getan hatte, oder ob er und seine Frau ihnen leidtaten. Auf jeden Fall ist er jetzt fort, und heute ist ein guter Tag für die Demokratie.«
Min war als Taugenichts nach Seoul gefahren und würde als Held zurückkehren.
Soo-Ja saß auf den Stufen vor ihrem Haus und sah den Dienstbotinnen bei der wöchentlichen Kleiderwäsche im Hof zu. Eine bediente mit ihren kräftigen Armen den Hebel der Wasserpumpe, bis ein Strahl sauberen Wassers hervorschoss. Eine andere saß auf einem Stein und schrubbte die nassen, seifigen Kleider auf einem Waschbrett. Eine dritte schließlich wusch die Sachen unter der Pumpe aus und hängte sie mit Klammern an die Leine. Soo-Ja betrachtete ihre plumpen Körper, versteckt unter alten Hanboks, und dachte verlegen daran, dass sie selbst, die ohnehin schon dünn war, in letzter Zeit auch noch abgenommen hatte.
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