Was dein Herz nicht weiß
lauschte den Unterhaltungen der Frauen, die redeten wie die Leute vom Land, ohne die formale Nachsilbe »io« hinter jedem Satz. Manchmal überlappten sich ihre Worte wie bei einem Kanon, und Soo-Ja hörte neidisch zu, wie sie sich salopp neckten oder zankten. Wenn Soo-Ja je die Sprache verlor und sie von Neuem lernen musste, konnte sie einfach diesen Frauen zuhören. Oft erzählten sie sich stundenlang Geschichten. Die Hausarbeit – kochen, putzen, waschen – schien eher nebenher zu laufen. Aus Soo-Jas Sicht bestand ihre Hauptaufgabe in Klatsch und Tratsch. Sie fragte sich, ob die Frauen hinter ihrem Rücken auch über sie redeten, und ihr wurde klar, dass es ganz selbstverständlich so sein musste.
Soo-Ja schloss die Augen. Sie wurde oft schläfrig, wenn sie melancholische Anwandlungen hatte. Ihr Kopf wurde immer schwerer – und dann waren die Dienstbotinnen plötzlich still. Sie öffnete die Augen und sondierte die Lage: Da war ein Eindringling! Unangekündigt war ein Mann durch das Tor in den Innenhof getreten. Er wirkte müde und erschöpft und trug eine Armeejacke mit abgeschnittenen Ärmeln und Hosen mit aufgekrempelten Beinen. Auf dem Rücken hatte er eine Tasche. Einen Moment lang glaubte Soo-Ja, es sei einer ihrer Brüder, der aus einem Krieg zurückkam, von dem man ihr nichts erzählt hatte.
Erst nach ein paar Sekunden begriff sie, dass es Min war, und da sprang sie auf und rannte zu ihm hin. Er hatte schon einmal ihr Haus besucht, aber damals war sie noch nicht bereit für ihn gewesen. Dieses Mal fiel sie ihm in die Arme, ohne Rücksicht auf Sitte und Anstand. Sie umarmten sich herzlich und hielten sich so lange fest, bis ihre Körper zu einer Einheit wurden: ihr Kinn auf seinem Brustbein, ihre Schläfe an seiner Wange. Er war nicht verloren gegangen; er war ihr zurückgebracht worden.
»Ist dein Vater hier?«, fragte Min, als sie sich endlich wieder losließen.
»Ja, wieso?«
Er blickte sie verlegen an. »Ich möchte ihn etwas fragen.«
»Was denn?« Soo-Ja betrachtete seine kirschgroße Nase und seine zu Boden geschlagenen Augen.
»Ich will ihn um deine Hand bitten.«
»Du willst also Soo-Ja heiraten?«, fragte der Vater verwundert.
»Ja.« Min saß ihm gegenüber auf dem Boden, die Tasche neben sich.
»Kommt das nicht ein bisschen plötzlich?«, fragte der Vater, um Selbstbeherrschung bemüht.
»Die Proteste – all die Gewalt in Seoul – haben mir gezeigt, wie zerbrechlich das Leben ist. In einer einzigen Sekunde könnte alles vorbei sein«, erklärte Min.
Soo-Ja rückte näher an ihn heran und nahm ihn instinktiv beim Arm. Die Idee, um ihre Hand anzuhalten, hatte er selbst gehabt, ohne ihr Zutun. Sie fragte sich, ob er durchschaute, dass sie nach Seoul wollte, um in den diplomatischen Dienst einzutreten. Über ihre Träume hatte sie mit Min nämlich immer nur vage gesprochen, niemals bestimmte Pläne erwähnt, damit er sich nicht benutzt fühlte. Aber vielleicht wusste er es ja. Vielleicht hatte er ihre Gedanken gelesen, als sie zum ersten Mal daran gedacht hatte, an dem Tag auf der Tribüne der Sportanlage. Vielleicht war sie ja ein offenes Buch für ihre Mitmenschen, und die waren nur zu höflich, um es zu kommentieren.
»Aber eine Heirat … will gut überlegt sein«, gab der Vater, der plötzlich nach Worten zu suchen schien, zu bedenken. »Nein, es geht nicht ohne einen Vermittler, ohne jemanden, der euch einander vorstellt, so wie es sich gehört. Wir brauchen jemanden, der mir von deiner Familie erzählt und der deiner Familie von uns erzählt. Danach müssen Soo-Jas Mutter und ich deine Eltern kennenlernen und die Ahnenrollen zurate ziehen, um eure Abstammungslinien zu bestimmen. Eine Ehe ist keine Vereinigung zweier Menschen, wie ihr anscheinend glaubt, sondern die Vereinigung zweier Familien.«
Soo-Ja und Min hielten den Kopf gesenkt und sahen zu Boden.
»Abeoji, Min kommt aus einer sehr guten Familie«, versicherte Soo-Ja.
»Mein Vater ist Textilfabrikant«, erklärte Min. »Seide, Baumwolle, Viskose. Er ist ein Industrieller, wie Sie.«
Das schien Soo-Jas Vater jedoch nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, er wirkte noch sorgenvoller als zuvor.
»Wenn dein Vater eine Fabrik besitzt, warum arbeitest du dann nicht bei ihm?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Das wollte mein Vater nicht. Mein Bruder arbeitet bei ihm.«
»Dein älterer Bruder?«
»Nein, ich bin der Älteste.«
»Du bist der Älteste?« Das schien den Vater zu verblüffen. »Wenn du der Älteste bist,
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