Was dein Herz nicht weiß
wie es kam, dass er niemals müde wurde. Er sang mit stetigem Enthusiasmus, sodass Soo-Ja beinahe verlegen wurde, als sie ihn beobachtete. Sie fühlte sich, als wäre sie in der Kirche, mitten in einem kollektiven Gebet, und hätte die Augen schon vor den übrigen Gemeindemitgliedern wieder geöffnet. Das war eine Art Eindringen in die Intimsphäre der anderen, die noch immer die Lippen bewegten. Yul ahnte nicht, dass Soo-Jas Blick auf ihm lag.
Sie fragte sich, ob er die Situation ähnlich einschätzte wie sie – nach diesem Abend würden sie sich trotz ihrer momentanen Nähe wohl nie wiedersehen. Kinder wurden getötet und Generäle ordneten Massaker an, doch sie wollte nichts als Yuls Hand ergreifen. Wollte, dass er sich zu ihr umdrehte und sie ansah. Würde die Zeit, trotz allem, was noch passieren musste, heute Abend für sie stillstehen?
Als sie vor dem Rathaus angekommen waren, hatten sie mehr als tausend Menschen hinter sich. Oben auf den Stufen des Gebäudes standen Polizisten in Kampfmontur, ihre Waffen auf die Demonstranten gerichtet, und dahinter Soldaten mit ihren eigenen Gewehren. Die Scheinwerfer des Rathauses befanden sich hinter den Soldaten, sodass von vorne nur ihre Silhouetten zu sehen waren und sie wie eine undurchdringliche Barriere um das Gebäude herum wirkten.
»Schließt euch uns an«, rief Yul, als wären sie alle Brüder. »Schlagt euch auf unsere Seite. Bei uns ist genug Platz für euch. Wir haben ein Ziel, für das es wert ist zu sterben, aber nicht zu töten. Legt eure Waffen weg. Dieser Marsch ist für alle, auch für euch.«
Die Polizisten richteten ihre Gewehre auf Yul, der jetzt langsam die Stufen hinaufstieg.
Er lächelte und schüttelte den Kopf, als überraschte es ihn, dass sie sich in dieser verfangenen Situation gegenüberstanden, wo sie doch genauso gut in einer Bar zusammen Hato spielen konnten. Soo-Jas Herz schlug schneller. Sie wünschte, er würde umdrehen und zurückkommen. Doch sie konnte nur zusehen, wie er weiter und weiter ins Licht schritt; sein Körper wirkte wie ein Magnet, der immer stärker vom Eisen der Gewehre angezogen wurde.
»Ihr seid unsere Freunde. Ihr wollt dasselbe wie wir: Freiheit und Demokratie. Dieser Junge – er hätte euer Bruder sein können. Euer Sohn.«
Die meisten Polizisten reagierten gleichgültig auf seine Worte, nur einer oder zwei von denen, die am jüngsten aussahen und Yul am nächsten standen, schienen zu wanken. Soo-Ja konnte beobachten, wie sehr sie sich bemühten, Yul nicht anzuschauen. Seine Worte hatten ihre Überzeugungen bereits infrage gestellt.
Plötzlich ertönten Schreie aus der Menge. »Mörder! Das sind alles Mörder!« Yul drehte sich um und versuchte, die Rufe zu ersticken, aber die Menge folgte inzwischen ihrer eigenen Dynamik. Innerhalb weniger Sekunden verwandelten die Männer und Frauen sich in tollkühne, todesmutige Wesen wie die blutrünstigen Füchse aus den Märchen, ohne zu begreifen, dass sie nach den Eingeweiden ihrer eigenen Brüder und Schwestern dürsteten. Noch nie zuvor hatte Soo-Ja erlebt, wie eine Menschenmenge von einer solchen Kraft durchdrungen wurde, und sie begann, sich davor zu fürchten.
»Ihr habt einen unschuldigen Jungen getötet! Ihr habt das Blut unserer Kinder vergossen!«, schrien die Demonstranten.
Die Polizisten zielten mit ihren Gewehrläufen in Richtung der Stimmen, und Soo-Ja hörte, wie einer der Beamten ein Kommando gab. In dem Chaos konnte sie nicht genau erkennen, von welchen Demonstranten die Rufe ausgingen, und sie wusste, die Polizisten konnten das ebenso wenig. Nur Sekundenbruchteile, bevor es knallte, gab Yul ihr ein Zeichen, und sie warfen sich zu Boden. Yul konnte gerade noch Chu-Sooks Mutter nach unten ziehen, da pfiffen die Kugeln schon über ihre Köpfe hinweg.
Als Soo-Ja aufsah, musste sie erleben, wie ihre Mitdemonstranten erschossen wurden. Nur Sekunden zuvor hatten sie noch nebeneinander gestanden und gesungen.
Wahllos schossen die Polizisten in die Menge, und die Menschen sackten mit zuckenden Gliedern zusammen, bevor sie leblos liegen blieben. Männer, Frauen, Studenten – auch die, die versuchten zu fliehen – wurden von den Kugeln durchsiebt. Blut strömte aus ihren Mündern. Soo-Ja, die noch immer auf dem Boden lag, wurde beinahe totgetrampelt, als die Menschen versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
Laute Schreie hallten durch die Luft. Soo-Ja versuchte, ihren Kopf mit den Armen zu schützen, während neben ihr die Mutter des Jungen vor
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