Was dein Herz nicht weiß
dann gehört alles dir – auch die Verantwortung. Warum hat dein Vater das Geschäft nicht dir anvertraut?«
»Er wollte nicht, dass ich in der Fabrik rumhänge«, sagte Min mit einer Spur Selbstzufriedenheit in der Stimme. »Die Mädchen, die dort arbeiten, haben immer mit mir geflirtet. Diese Frauen aus der Arbeiterklasse sehen den Sohn des Chefs und kommen auf dumme Gedanken. Mit Frauen muss man vorsichtig sein. Bei Soo-Ja brauche ich mich nicht zurückzuhalten, denn wir stammen beide aus derselben Schicht.«
»Wie schön für dich«, brummte der Vater. »Aber als diese Fabrikmädchen … etwas von dir wollten, war da eine Besondere dabei? Irgendeine, die sich besonders hervorgetan hat?«
Min zögerte, und seine Nasenlöcher bebten ein wenig. »Es sind gehorsame Mädchen. Aber sie machen viel Mühe.«
»Dein Bruder scheint keine Schwierigkeiten damit zu haben, sie zu ignorieren«, sagte Soo-Jas Vater resolut. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Abeoji, hör bitte auf, ihn in die Mangel zu nehmen!«, unterbrach ihn Soo-Ja. »Min ist Gast in unserem Haus. Willst du, dass er geht und allen erzählt, wie du mit den Leuten umgehst?«
Da schlug der Vater mit der flachen Hand auf den Boden. »Ja, tu das nur. Erzähl es allen.«
»Abeoji, bitte. Gib Min noch eine Chance … «
»Du solltest jetzt gehen«, sagte ihr Vater zu Min.
Der blieb mit gesenktem Kopf sitzen.
»Ich sagte, du kannst jetzt gehen«, wiederholte der Vater.
Soo-Ja schaute nicht hoch, als Min aufstand, sich vor ihrem Vater verbeugte und das Zimmer verließ. Er eilte hinaus, als wäre der Aufbruch seine Idee gewesen, als wäre er derjenige, der die andere Partei für nicht gut genug befunden hatte.
Sobald Min gegangen war, rannte Soo-Ja nach draußen in den Hof. Es hatte angefangen zu regnen; sie spürte, wie die Tropfen gegen ihren Körper prasselten und wie ihre Füße auf dem nassen Boden ausrutschten, darum stützte sie sich an einer Kiefer ab, deren angegriffene Zweige beinahe abbrachen. Sie war auf dem Weg in ihr Zimmer auf der anderen Hofseite, als ihr Vater, der ihr gefolgt war, sie aufforderte, zurück ins Haupthaus zu kommen. Es war eine spannungsgeladene Situation, in der sie sich gegenüberstanden.
»Wieso glaubt er bloß, dass er dich heiraten kann? War er Klassenbester? Ist er Arzt oder Ingenieur? Er hat ja nicht mal die Universität abgeschlossen!«, brüllte der Vater. In dem strömenden Regen konnte er nur mit Mühe die Augen offenhalten, und seine Kleider waren sofort durchweicht.
»Das ist mir egal«, sagte Soo-Ja, die sich beherrschen musste, um nicht zu zittern. Ihr langes, nasses Haar bedeckte das ganze Gesicht, wobei ihr ein Büschel am Mund klebte und einzelne Strähnen wie Linien über den Augen hingen.
»Ach, das ist dir egal? Einen Burschen wie diesen – ohne Universitätsabschluss oder Ausbildung – würde eine Heiratsvermittlerin doch bloß auslachen!«
»Aber er kommt aus einer guten Familie! Sie besitzen eine Fabrik«, keuchte Soo-Ja.
»Ein Erstgeborener, den man aus der elterlichen Fabrik verbannt hat, muss etwas sehr Schlimmes angestellt haben«, konstatierte der Vater.
Soo-Ja blickte hinüber zum Zimmer der Mutter, in dem das Licht anging. »Wir haben Mutter aufgeweckt.«
»Er ist völlig inakzeptabel. Und er ist der älteste Sohn. Weißt du überhaupt, was es heißt, die Ehefrau des ältesten Sohnes zu sein?« Der Vater kam auf Soo-Ja zu. »Du wärst für die ganze Familie verantwortlich. Weißt du, wie viel Arbeit es ist, deinen angeheirateten Verwandten die ganze Zeit zu Diensten zu sein? Hat er Brüder oder Schwestern?«
»Er hat einen Bruder und eine Schwester.«
»Na schön, wenigstens hat er nicht viele Geschwister, aber es wäre deine Aufgabe, die, die er hat, mit zu erziehen. Und dazu kommen noch deine eigenen Kinder. Soo-Ja, es ist viel Arbeit, den ältesten Sohn einer Familie zu heiraten.«
»Appa, ich weiß, du willst nur mein Bestes, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Bis jetzt habe ich doch immer gute Entscheidungen getroffen, oder?«
Einen Moment lang stand Soo-Jas Vater regungslos da, während seine Kleider vom Regen durchtränkt wurden. »Es ist nicht gut, bei den unwichtigen Dingen recht zu haben und dafür bei den wichtigen Dingen unrecht.«
Soo-Ja wusste, dass dieser Ausspruch stimmte. Eine Ehe war eine ernste Sache. Der einzige Anlass, bei dem eine Frau ihren Willen durchsetzen konnte, war die Wahl ihres Ehemanns. Wählte sie weise, so konnte sie auf ein
Weitere Kostenlose Bücher