Was dein Herz nicht weiß
starten. »Ich bin gekommen, um Ihnen bei der Suche nach Ihrem Sohn zu helfen. Ich möchte Ihnen wirklich helfen. Glauben Sie nicht, was die Polizei Ihnen eingeredet hat. Ich bin nicht hier, um Ihnen zu schaden.«
»Ich kann nicht, ich kann nicht. Bitte gehen Sie. Ich darf mit niemandem reden, der sich gegen unsere rechtmäßige Regierung auflehnt!«, rief sie mit geschlossenen Augen, als müsste sie sich anstrengen, die eingeübten Worte aufzusagen. Immer vehementer zappelte sie mit den Armen.
Soo-Ja fürchtete langsam, die Frau würde überhaupt nicht mit ihnen reden. Sie trat auf sie zu und packte ihre Arme. Als sie sich beruhigt hatte, schaute Soo-Ja ihr direkt in die Augen und begann zu sprechen.
»Frau Yang, aber Sie kennen mich doch. Ich bin kein Mitglied einer Studentenvereinigung. Mit mir können Sie doch sprechen.« Sie nahm Chu-Sooks Mutter bei der Hand und deutete auf das Haus. »Frau Yang, lassen Sie uns hineingehen. Dort können wir uns ein wenig unterhalten.«
»Warum sollte ich denn mit Ihnen reden? Sie haben mich angelogen.«
Soo-Ja packte ihre Hand ein wenig fester als geplant und führte sie Richtung Tür. »Frau Yang, ich will Ihnen helfen. Lassen Sie uns bitte ins Haus gehen. Bevor Ihre Nachbarn uns hier sehen und an die Polizei verraten.«
Soo-Ja drehte sich Hilfe suchend zu Yul um, aber er schien nicht ganz bei der Sache. Interessiert starrte er auf die Hütte der Frau, die Augen leicht zugekniffen, als versuchte er zu erraten, was sich darin befand. Es gab keine Fenster, und vermutlich weder fließendes Wasser noch Strom. Das Tageslicht drang nur durch die winzigen Spalten an den Seiten der Strohtür in den Raum, sodass das Innere dunkel und muffig wirkte. Soo-Ja wollte der Frau gerade hinein folgen, als Yul sie am Arm zurückhielt.
»Warte«, sagte er. Seine Nasenlöcher weiteten sich, als könnte er riechen, dass etwas faul war. Wie ein resoluter Verkehrspolizist hielt er Soo-Ja fest und zog sie fort von der Hütte. »Was riecht hier so?«
Die Frau wandte den Blick ab und sah zu Boden. Es schien, als hätte ihr Körper keine Tränen, kein Blut mehr in sich. Als sie sprach, klang es ganz sachlich: »Das ist mein Sohn.«
Sie hielten die Leiche des Jungen hoch in die Luft; von Weitem sah es aus, als würde sie schweben, dabei wurde sie von einem Dutzend Hände getragen. Zuerst hatten sie den Körper in eine Decke eingewickelt, von Kopf bis Fuß, wie ein Neugeborenes, aber irgendwann auf dem Weg war die Decke hinuntergerutscht – die kalte, verfaulende Haut widersetzte sich jeder menschlichen Annehmlichkeit. Die Leiche schien fast unerträglich schwer, obwohl der Junge zu Lebzeiten leicht und auch nicht besonders groß gewesen war. Chu-Sook selbst wäre erstaunt gewesen, wenn er gesehen hätte, wie mühevoll es war, seinen Körper zu tragen – fast so mühevoll, wie ihn zu finden, nach einer langen Suche im Fluss. Ohne seine Schuluniform hätte man ihn überhaupt nicht erkannt; sein Gesicht war zu Brei geschlagen worden, und in seinem Schädel steckten noch Granatsplitter.
Sie trugen seinen Körper von der Hütte seiner Mutter bis zum Rathaus von Daegu. Es waren einige Hundert Menschen, an der Spitze Yul, und neben ihm Soo-Ja und Chu-Sooks Mutter. Yul wurde eigentlich schon seit Stunden in Seoul erwartet, doch er war geblieben, um den spontanen Protestzug anzuführen. Irgendwann wurde es dunkel, und die Gesänge klangen nicht mehr ärgerlich, sondern traurig. Der Protestmarsch verwandelte sich in einen Leichenzug.
Die Neuigkeit vom Fund der Leiche hatte sich schnell herumgesprochen, und die Menge wuchs mit jedem weiteren Straßenzug an. Zuerst stießen die Schüler und Studenten der nahe gelegenen Schulen und Universitäten dazu, dann alle anderen, bis fast jeder Bewohner der Stadt auf den Beinen zu sein schien. Unterwegs musste Soo-Ja die Mutter des Jungen immer wieder stützen. Es war, als würde ihre Seele den Körper verlassen, als wäre er bloß noch ein Gehäuse für ihre Knochen, nicht länger in der Lage, zu gehen oder aufrecht zu stehen. Soo-Ja musste ihr den Arm um den Rücken legen und sie stabilisieren, bis ihre Kräfte zurückgekehrt waren. Die anderen Demonstranten blickten zu ihnen herüber. Man wusste, wer Chu-Sooks Mutter war, aber keiner kannte Soo-Ja. Das empfand sie als Erleichterung, denn sie wollte nicht, dass ihre Anwesenheit – sie war ja eine Frau aus bestem Hause – vom Anlass der Demonstration ablenkte.
Immer wieder schaute sie Yul an und fragte sich,
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