Was dein Herz nicht weiß
zu werden. Nach einer Weile ließ sie seine Hand los, damit er das Blütenblatt alleine ausfüllen konnte. Dann führte sie ihn wieder, um den Abstand zwischen den Blättern vorzugeben. Jedes Mal, wenn sie seine Hand nahm, fühlte es sich an wie das erste Mal, und sobald sie ihn für ein paar Sekunden losließ, wuchs ihr Verlangen nach ihm.
»Jetzt möchte ich ein Bild für dich malen. Das kannst du dann mit nach Hause nehmen«, erklärte Soo-Ja.
Sie lächelte Yul an, und er lehnte sich zurück und sah ihr zu. Sie begann, indem sie die Tinte im Reibstein herstellte. Dann zeichnete sie einen knorrigen Ast, der sich in vier Richtungen erstreckte – nach rechts, nach links, in den Hintergrund und auf den Betrachter zu. Während sie einen Strich vollführte, hob sie manchmal den Pinsel ab, um Unterbrechungen zu schaffen – Flächen, die weiß blieben und später im Geiste des Betrachters vervollständigt werden würden. Schließlich gab sie etwas Wasser in den Reibstein, denn sie brauchte eine hellere Tinte für die zarten runden Blüten, die sie an die Spitze der Zweige setzte.
»Siehst du, es muss Harmonie herrschen zwischen Yin – dem Weiblichen – und Yang – dem Männlichen«, erklärte Soo-Ja. »Darum muss ein Gleichgewicht zwischen der leeren Fläche und der Zeichnung bestehen.«
Als sie fertig war, gab sie Yul das Bild von der Pflaumenblüte. Er beugte sich über das Papier und studierte es eingehend. Er sagte nichts, doch seine Augen waren voller Bewunderung. Schließlich rollte er das Reispapier zusammen und steckte es in seine Tasche.
»Ich kann spüren, dass dir mein Rat nicht willkommen ist. Vielleicht sollte ich jetzt gehen«, sagte er. In seiner Miene lag eine Spur von Traurigkeit.
Soo-Ja wollte nicht, dass er schon ging, wollte nicht, dass er das Klassenzimmer verließ und in das geschäftige Treiben der Straße eintauchte, sich zwischen die Abendschüler und ihre Lehrer mischte. Doch als er seine Schuhe wieder anziehen wollte, waren sie verschwunden – seine teuren Lederschuhe, die er, wie es üblich war, auf den Stufen vor der Tür gelassen hatte. Soo-Jas Schuhe waren noch da, aber seine waren durch ein billiges Paar normaler Sandalen ersetzt worden.
Soo-Ja schämte sich fürchterlich. Wenn Yuls Schuhe gestohlen worden waren, dann war das ihre Schuld. Während der Stunde, die sie mit ihm verbracht hatte, war sie für sein Wohlergehen verantwortlich gewesen. Sie hatte die Rolle der Gastgeberin gespielt, und damit gingen Rechte, aber auch Pflichten einher. Außerdem war sie diejenige, die die Schule als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Soo-Ja war klar, dass er all dies wusste, und in diesem Moment war sie kurz davor, das Gesicht zu verlieren.
Doch zu ihrem Erstaunen lächelte Yul und zog die Sandalen an, als wäre nichts geschehen, als wären sie in Wirklichkeit seine eigenen. Als er sah, dass Soo-Ja ihn anstarrte, sagte er: »Ach, ich bin heute Morgen zu spät aus dem Haus gegangen und habe nicht bemerkt, was ich an den Füßen trug. Jedenfalls danke für die Zeichenstunde. Ich habe mich sehr gefreut, dich wiederzusehen.«
Soo-Ja nickte, berührt von seiner Güte. Er wollte sie nicht in eine peinliche Situation bringen. Sie nahm ihre Zeichensachen, um sich auf den Nachhauseweg zu machen.
Doch plötzlich spürte sie, wie Yul ihr die Hand auf den linken Arm legte. Er berührte sie ganz zart, als wäre sie eine Blume. Sie drehte sich zu ihm um. Die Stelle, an der er sie berührt hatte, prickelte noch immer. Die Luft erwärmte sich, als er sich ihr näherte, fast schon spürte sie seinen Atem. Yul schaute sie mit halb geöffneten Lippen an, aber aus seinem Mund kamen keine Worte. Er wirkte, als hätte er tausend verschiedene Zeilen eingeübt, von denen er jetzt eine nach der anderen verwarf. Anhand seines Mienenspiels erriet Soo-Ja jeden einzelnen Entwurf, den er aussortierte: ein Geständnis, eine Entschuldigung, eine Bitte. Sie wollte sie alle einsammeln und in ihre Arme schließen, damit sie wenigstens etwas von ihm bei sich hätte.
»Heirate Min nicht«, flüsterte er, wobei seine Lippen über ihr Ohr strichen. »Heirate lieber mich.«
Die ganze Welt schien zu schweigen; das Einzige, was Soo-Ja hören konnte, war ihr Herz, das immer schneller schlug. Verwundert schaute sie Yul an und spürte dabei die Wärme, die von seinem Körper ausging. Sie fühlte sich, als wäre sie plötzlich stumm geworden. Ihr fehlten ganz einfach die Worte. Hier war es, ihr Glück, und forderte sie zum Tanz
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