Was dein Herz nicht weiß
während er sich auf die Stufen vor den Raum setzte und seine schwarzen Lederschuhe auszog. Er stellte sie auf dieselbe Stufe wie ihre Schuhe, und schuf damit zwei perfekte Linienpaare.
Soo-Ja erhob sich, und sie verbeugten sich voreinander. Sie musste noch ihre Sachen packen, denn der Plan lautete ja, dass er sie nach Hause bringen sollte. Aber plötzlich saß sie wieder auf der Matte. Sie wollte ihn im Klassenzimmer halten – ganz still und ruhig neben sich. Yul setzte sich ebenfalls auf eine Matte, mit dem Gesicht zu dem gelbrot glasierten Tisch, der vor ihr stand.
»Ich war überrascht, von dir zu hören«, sagte sie.
»Ich war überrascht, von deiner Hochzeit zu hören«, erwiderte Yul mit sorgenvoller Miene.
»Bist du gekommen, um mir Glück zu wünschen?«, fragte sie und wich seinem Blick aus, indem sie ihre halbfertige Zeichnung studierte.
Er legte den Kopf schief. »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber Glückwünsche sind nicht gerade das, woran ich zuerst gedacht hatte. Ich kenne Min vielleicht nicht besonders gut, aber er ist kein Mann zum Heiraten, höchstens für ein Rendezvous.«
Soo-Ja griff nach einem leeren Blatt Reispapier und legte es vor sich auf den Tisch, während sie über eine Antwort nachdachte. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, Yul die Gründe für ihre Wahl zu erklären. Würde er sie verstehen? Oder würde er sie verurteilen?
Soo-Ja vermied weiter den Blickkontakt und tauchte ihren Pinsel in den Reibstein. Als sie den ersten Pinselstrich setzen wollte, überraschte Yul sie, indem er näher an sie heranrückte. Sie dachte, er würde ihr den Pinsel aus der Hand nehmen, doch er nahm ihre Hand in seine, sodass sie gemeinsam den Pinsel hielten.
»Was machst du denn da?«, fragte sie und betrachtete seine Hand, die wie eine Hülle über ihrer eigenen lag.
»Führe mich«, bat er.
Soo-Ja zögerte. »Ich wusste gar nicht, dass du zeichnest.«
»Das tue ich auch nicht. Aber ich wollte es schon immer mal lernen.«
Soo-Ja nickte. Das war besser, als über Min zu reden. Sie befreite ihre Hand aus seinem Griff und umfasste seine, die jetzt den Pinsel hielt. Dann malten sie ihren ersten Strich zusammen, ganz langsam vollführten sie einen dünnen schwarzen Bogen. Diesen Bogen durchkreuzten sie mit einem zweiten Strich, wieder von unten ansetzend.
Soo-Ja packte Yuls Hand fester und bemerkte, dass er seinen Arm ganz locker ließ, damit sie ihn besser führen konnte. Sie machte weiter, malte sechs oder sieben Blätter, deren Konturen sich überlappten. Bei einigen Strichen hob sie Yuls Hand mit dem Pinsel für einen kurzen Moment vom Papier ab, sodass mitten in einem Blatt einige Zentimeter freie Fläche entstanden. Es sah aus, als hätte jemand diesen Teil der Orchidee einfach wegradiert und die Pflanze gespalten.
»Ich weiß, ich hätte früher kommen sollen. Ich wollte dich sehen, war mir aber nicht sicher, ob das schicklich gewesen wäre«, erklärte Yul beim Zeichnen.
»Du hast mir an jenem Abend das Leben gerettet. Ich wäre vom Kugelhagel überrascht worden, wenn du mich nicht gewarnt hättest«, sagte Soo-Ja.
»Aber du wärst auch überhaupt nicht dort gewesen, wenn du mich nicht kennengelernt hättest.«
»Ich bin sehr froh, dass ich dort war«, erklärte sie bestimmt. »Mach dir darüber nur keine Sorgen.«
»Wenn ich früher gekommen wäre, hättest du diese Verlobung vielleicht vermeiden können.«
Schnell nahm Soo-Ja sich ein frisches Stück Papier, denn sie wollte das Thema wechseln. »Möchtest du jetzt die Chrysantheme üben? Hast du gemerkt, wie wir bei der Orchidee die Blätter betont haben? Bei der Chrysantheme müssen wir das Gegenteil tun und die Blüte betonen. Und die ist schwieriger. Die Blütenblätter in der Mitte müssen mit dunklerer Tinte gezeichnet werden als die am äußeren Rand.«
Soo-Ja und Yul, deren Hände sich noch immer zusammen bewegten, zeichneten Blumen mit Blütenblättern, die diagonal aufwärts strebten und die Illusion erzeugten, sich bis jenseits der Grenzen des langen, rechteckigen Papiers zu erstrecken.
»Was meinst du, was kann ein junger Mann von einer Chrysantheme lernen?«, fragte er.
»Nun, die Chrysantheme blüht sogar im Regen, Sturm und Schnee, im Spätherbst und Frühwinter. Sie folgt ihrer Natur und hat keine Angst vor Gefahr und Tod. Ich wage zu behaupten, dass solche Eigenschaften auch einen Mann auszeichnen: Mut, Loyalität und Hingabe.«
Während ihre Hände zeichneten, genoss Soo-Ja es, von Yuls Wärme umschlungen
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