Was dein Herz nicht weiß
kalte Füße kriegst. Wenn du gewusst hättest, dass ich fünf Geschwister habe, hättest du mich nie geheiratet.«
»Ich habe mir keine Gedanken um deine Familie gemacht. Ich habe nämlich immer gewusst, dass wir von hier weggehen und nach Seoul ziehen werden, nur wir beide«, sagte Soo-Ja und spürte das Prickeln der Vorfreude.
»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte Min mit seltsam metallischer Stimme. »Wir gehören hierher, zu meinen Eltern. Es ist unsere Pflicht, ihnen zu dienen.«
Soo-Ja hatte das Gefühl, als würde ihr die Luft aus den Lungen gepresst. »Aber du hast gesagt, du würdest mit mir nach Seoul gehen«, rief sie und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Damit ich meine Diplomatenausbildung beginnen kann. Du hast gesagt, du würdest mich dorthin … «
»So etwas habe ich nie gesagt«, entgegnete Min ein wenig zu schnell, fast schon brüsk. »Warum sollte ich dir so etwas versprechen?«
»Ich dachte … du hast doch gesagt … «, stammelte Soo-Ja enttäuscht.
»Redest du von dem Brief, den mir dein Vater gegeben hat?«, fragte Min.
»Mein Vater?« Soo-Ja fiel die Kinnlade herunter. »Er hat dir den Brief … «
»Ja, aber ich habe ihn weggeworfen. Solche Papiere sind gefährlich, man kann sich leicht an ihnen schneiden.«
Das Zimmer schien sich um Soo-Ja zu drehen, und sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen. In diesem Moment begriff sie, wie sehr sie sich in Min getäuscht hatte. Er würde sie niemals auf die Diplomatenschule gehen lassen. Er würde sie niemals in ihren Zielen unterstützen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie in einem ganz eigenen Universum leben könnte, befreit von den Zwängen, denen alle anderen sich unterwerfen mussten. Aber sie hatte sich schwer getäuscht.
»Was hat mein Vater zu dir gesagt, als er dir den Brief gegeben hat?«, wollte Soo-Ja wissen.
»Dein Vater ist nicht wie meiner«, erklärte Min, ohne damit die Frage zu beantworten. »Wenn mein Vater einmal eine Entscheidung gefällt hat, bleibt er dabei. War es bei dir eigentlich immer schon anders? Dein Vater sagt Nein, und am nächsten Tag tut es ihm leid und er sagt Ja? Ich wette, du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man etwas nicht bekommt. Du bist dein ganzes Leben lang verwöhnt worden, das habe ich sofort gemerkt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.« Min stieß eine weitere Rauchwolke aus. Soo-Ja wusste, wie unfair Mins Worte waren. »Außerdem kannst du es einfach nicht zugeben, wenn du verloren hast. Ich weiß noch nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Angewohnheit ist.«
»Mir war nicht klar, dass ich verloren habe«, gab Soo-Ja getroffen zurück. Sie dachte an die Nacht, in der sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. In ihrem Kopf tanzten Lichter, die sie blendeten.
»Ist es dir schon mal passiert, dass du nicht gewonnen hast?«, fragte Min.
»Du hast keine glänzende Partie gemacht. Ich bin nicht gerade eine Prinzessin«, erklärte Soo-Ja, die versuchte, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.
»Nein, aber du bist auch kein Fabrikmädchen oder Bauernkind, und mit solchen bin ich vor dir ausgegangen.«
Soo-Ja schloss die Augen. Sie konnte den Blick nicht auf ihren Mann richten. »Ich glaube, wir sollten schlafen. Wir haben eine lange Reise vor uns. Ich würde dir jetzt Gute Nacht sagen und das Licht ausschalten, aber das ist ja schon aus.«
»Schon gut, es tut mir leid«, versicherte Min halbherzig. »Vergiss, was ich zu dir gesagt habe.«
Im Dunkeln zog Soo-Ja ihre Straßenkleidung aus und den Pyjama an. Dann schlüpfte sie neben Min unter die Decke. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie konnte nicht einschlafen. Sie spürte, dass auch er wach lag. Plötzlich hörte sie einen leisen, kaum auszumachenden Ton, der klang, als wäre er aus der Kehle eines Tieres gekommen. Sie drehte sich zu Min um, und er wiederholte, was er gesagt hatte, jetzt ein wenig lauter.
»Danke«, sagte er.
»Wofür?«
Min wandte ihr den Rücken zu. »Das wirst du schon bald herausfinden.«
TEIL ZWEI
Orchidee
Drei Jahre später
Daegu, Südkorea
1963
6
Soo-Ja betrachtete sich in erster Linie als Mutter, für den Rest der Welt aber war sie eine Schwiegertochter. Und als solche wurde von ihr erwartet, dass sie sich um alle Kinder der Familie Lee kümmerte, besonders um ihre junge Schwägerin Na-yeong, die von ihren Eltern mit allen möglichen teuren Bonbons und Süßigkeiten überschüttet wurde. Soo-Ja war sich nicht sicher, warum sie sich
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