Was dein Herz nicht weiß
ausgerechnet Na- yeong als das einzige Objekt ihrer Aufmerksamkeit und Liebe ausgesucht hatten. Vielleicht weil sie eine der Jüngsten war, dachte Soo-Ja, und daher am wenigsten vom Leben gezeichnet, oder weil sie diejenige mi t der kürzesten Liste an Verfehlung en war. Vielleic ht war der ursprünglich Auserwählte ja Min gewesen, bis den Schwiegereltern klar geworden war, dass sie sich nicht auf ihn verlassen konnten – Min war zu wankelmütig und zu aufsässig. Er gab an einem Tag sein politisches Engagement auf, fing dann am nächsten Tag mit Boxen an, nur um auch dieses Hobby wieder fallen zu lassen, und kehrte schließlich zur Fabrik seines Vaters zurück, und zwar nicht als Führungskraft, sondern als Packer. Soo-Ja fragte sich, ob ihre Schwiegereltern die Namensliste ihrer Kinder Schritt für Schritt durchgegangen waren und keinen besseren Kandidaten gefunden hatten – Mins Schwester Seon-ae, die Zweitälteste, hatte das Haus verlassen und war nie wieder zurückgekommen; Chung-Ho, der Drittälteste, grollte ihnen, weil er gezwungen worden war, die Schule zu verlassen und zu arbeiten; Du-Ho war nicht sehr klug und wurde deshalb abgeschrieben; und In-Ho, der jüngste Sohn, war zu kränklich.
Als Na-yeong dann achtzehn wurde, war das also ein bedeutsamer Zeitpunkt, und ihre Eltern arrangierten ein Treffen mit einer Heiratsvermittlerin, um einen Ehemann für sie zu finden.
Von dem Tag an begann Soo-Ja, Na-yeong mit den Augen eines Bewerbers zu betrachten. Na-yeong war groß, langbeinig und nicht besonders schön, aber auch nicht unattraktiv. Sie hatte feine, fast patrizische Züge, und ihr Gesicht war nicht rund wie das ihrer Eltern, sondern länglich oval. Ihre Augen waren auch größer, und manchmal leuchteten sie. Sie sah nicht aus wie ihre Mutter, die gebräunt und robust war, sondern – wie Soo-Ja anhand eines alten Fotos im Familienalbum erkannte – genau wie ihre Großmutter. Na-yeongs Züge hatten eine Generation übersprungen, so als käme sie direkt aus der Vergangenheit, vielleicht aus einer langen Linie von Frauen, die genauso aussahen wie sie.
Aber Na-yeong war insofern die Tochter ihrer Eltern, als dass sie genau das gleiche Mienenspiel aufwies und wie ihr Vater niemals lachte. Man konnte auf Anhieb erkennen, dass sie Vater und Tochter waren. Soo-Ja stellte sich vor, dass sich die Charakterzüge ihres Schwiegervaters auf Na-yeongs Körper abbildeten – als könnte sich das, was im Inneren eines Elternteils liegt, im äußeren Erscheinungsbild eines Kindes widerspiegeln. Der Schwiegervater hatte die Statur eines Generals und bewegte sich wie ein Baumstamm, aber in Na-yeongs dünner Gestalt konnte Soo-Ja die Leere in ihrem Schwiegervater sehen und in Na-yeongs knöchernen Armen und Beinen seine ausgeprägte Habgier.
Soo-Ja überlegte, was für eine Art von Mann sie für Na-yeong vorschlagen würde, wenn sie die Heiratsvermittlerin wäre. Auch für sie musste es einen geben, denn es gab ja für jedermann ein Gegenstück. Nur in Büchern war die Heirat ausschließlich Heldinnen vorbehalten. Im wirklichen Leben mussten auch die Cousine der Heldin und die Cousine der Cousine heiraten. Soo-Ja stellte sich für Na-yeong einen Mann nach dem anderen vor – schlank, rundlich, jung, alt, reich, arm – bis Na-yeong sie dabei ertappte, wie sie sie musterte. Sie wandte den Blick ab. Als die Schwägerin aber ihre Aufmerksamkeit auf eine Elster vor dem Fenster richtete, traute Soo-Ja sich wieder hinzuschauen und fragte sich, was es eigentlich war, das zwei Leute füreinander wie geschaffen machte. War es unsichtbar, wie Gas, oder für das Auge erkennbar wie Funken in der elektrischen Leitung?
Wochen ohne irgendwelche Nachrichten von der Heiratsvermittlerin gingen ins Land, bis sie endlich ankündigte, dass sie einen potenziellen Ehemann für Na-yeong mitbringen würde. Die Schwiegermutter klatschte in freudiger Erregung in die Hände, als wollte sie eine Fliege fangen, und als Na-yeong scheu von ihrem Liebesroman aufblickte, schien es Soo-Ja, als könnte sie das Schlagen ihres jungen Herzens quer durch das ganze Zimmer hören. Ihre Verwandten waren also wie sie selbst, begriff Soo-Ja, unfähig, ihre Emotionen zu verbergen und jederzeit bereit, sich auf etwas Neues zu stürzen. Wie kam es, dass sie am Ende des Tages nicht erschöpft und ausgebrannt waren, wenn doch das bloße Versprechen von Liebe sie alle in einen solchen Zustand der Ekstase hineinpeitschen konnte?
An dem Tag, als der Bewerber kommen
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