Was dein Herz nicht weiß
hervorschauten.
»Wir müssen unsere Gläubiger bezahlen, Soo-Ja. Die Lage ist sehr ernst. Wenn wir unsere Schulden nicht begleichen, werden sie uns die Fabrik nehmen«, sagte er.
Soo-Ja begann, ihre Matten und Decken für die Nacht herzurichten. Sie vermied es, Min anzusehen, konnte aber auf der Haut spüren, wie sein Blick auf ihr lag.
»Dein Vater hätte genug Geld, um seine Gläubiger zufriedenzustellen, wenn er die Fabrik nicht so heruntergewirtschaftet hätte«, bemerkte sie.
»Ja, mein Vater ist schrecklich und dein Vater ist perfekt. Sind wir etwa im Kindergarten? Wirst du nicht müde, dieses kindische Spiel zu spielen? Mein Vater ist jetzt auch dein Vater«, erwiderte Min und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Wenn die Fabrik den Bach runtergeht, kannst du auch woanders eine Anstellung finden. Ich kann in einem Laden oder in einem Restaurant arbeiten und meine Mutter bitten, tagsüber auf Hana aufzupassen«, sagte Soo-Ja nüchtern und bürstete einige verstreute Wollfasern von der Bettdecke.
»Nein, Soo-Ja. Wenn wir die Fabrik schließen müssen, wird alles sehr viel schlimmer werden. Weißt du, was mit Männern passiert, die ihre Darlehen platzen lassen?« Er machte eine Pause, um ihrem Blick zu begegnen. »Sie kommen ins Gefängnis.«
»Dein Vater hat andere bestohlen, um die Fabrik am Laufen zu halten. Ich weiß, dass er nie vorhatte, jemandem sein Geld zurückzuzahlen.«
In diesem Augenblick sah sie einen Schatten auf Mins Gesicht fallen, und ihr wurde klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Als er sprach, konnte sie die Furcht in seiner Stimme hören. »Soo-Ja, letzten Monat, als die Schwierigkeiten überhandnahmen, hat mein Vater die Fabrik auf jemand anderen übertragen … auf mich. Wenn einer ins Gefängnis muss, dann ich.«
Soo-Ja sah Min erschrocken an. Sie hatte gedacht, dass sie ihn nicht liebte, aber vielleicht irrte sie sich ja. Wie sonst konnte sie sich den Schlag in die Magengrube erklären, den sie jetzt empfand, die plötzliche Übermacht an Emotionen, von denen sie gepackt wurde? Wie konnte der Schwiegervater seinem eigenen Sohn das antun? Und warum wehrte Min sich nicht, schrie ihn nicht an? »Dein Vater ist ein widerlicher Mann.«
»Ich würde trotzdem für ihn ins Gefängnis gehen«, erklärte Min prahlerisch.
Soo-Ja ließ die Bettdecken auf den Boden fallen. »Nein, nein, du kannst ihn doch jetzt nicht noch verteidigen!«
»Was er gemacht hat, war vollkommen richtig. Ich bin der Älteste, deshalb gehört mir, was auch ihm gehört. Das Gute und das Schlechte.«
»Aber das ist es doch gar nicht«, erwiderte Soo-Ja und schüttelte den Kopf. »Kannst du denn nicht sehen, was er getan hat?«
»Ja, aber ich versuche mit aller Kraft, darüber hinwegzusehen. Er ist mein Vater. Ich möchte lieber denken, was ich denke, und ein Dummkopf sein, als ein Mann zu sein, der … «
»Der einen Lumpen zum Vater hat«, schnitt sie ihm das Wort ab.
Sie standen sich jetzt gegenüber; Min zappelte herum und Soo-Ja war wie erstarrt, den Blick auf ihn gerichtet. Min verteidigte seinen Vater nicht. Soo-Ja konnte erkennen, dass es sogar ihm – dem ergebensten aller Söhne – schwerfiel, mit dem Verhalten seines Vaters umzugehen. Der Vater behandelte Min, als könnte er über sein Leben verfügen, ihn je nach Bedarf ausnutzen oder verstoßen. Und Min begehrte nie dagegen auf. Sie fragte sich, ob er tief in seinem Innersten wirklich glaubte, dass er nur ein bloßes Anhängsel seines Vaters war und sein Leben nur so viel Wert aufwies, wie es dem Alten nutzte.
»Willst du, dass ich meinen Vater um Geld bitte?«, fragte Soo-Ja.
Min blickte sie an, und sie sah Hoffnung in seinen Augen aufleuchten. Aber nur wenige Sekunden später beobachtete sie, wie seine Pupillen sich verdunkelten und sein Kiefer sich anspannte. Zu ihrer Überraschung schüttelte er den Kopf, und vor ihr entfaltete sich ein außerordentliches Naturschauspiel: Ein menschliches Wesen veränderte sich. Sie fragte sich, ob wenige Sekunden genügten, um alte Gewohnheiten abzuwerfen, sie wie hart gewordene Erde zu lockern und durch die einsickernden Tropfen der Spontaneität und all der Dinge, die das Leben so kompliziert machen, zu ersetzen. Sie konnte die Anspannung in ihrem Ehemann spüren, während er alte Gedanken hinter sich ließ und nach neuen Ausschau hielt. Sie konnte beobachten, wie er ein anderer Mensch wurde – oder es wenigstens versuchte, indem er aus dem Schatten seines Vaters hinaustrat und sich
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