Was dein Herz nicht weiß
nach Hause zurückzukehren.
Soo-Ja umarmte Jae-Hwa ein letztes Mal. Als ihre Wangen sich berührten, konnte sie die Feuchtigkeit unter ihren eigenen Augen spüren. Schnell wischte sie die Tränen beiseite und nickte dann resigniert. Sie musste Jae-Hwa zurücklassen. Aber warum empfand sie darüber so viel Traurigkeit, wo doch ihr eigenes Leben so desolat war? War sie wirklich so viel besser dran als Jae-Hwa?
Was ist der wirkliche Grund dafür, dass ich ihr helfen wollte? Hege ich insgeheim vielleicht die Hoffnung, dass ich mich auch selbst retten kann, wenn ich meine Freundin retten kann? Und was bedeutet es dann, dass ich versagt habe?
Soo-Ja stand auf. Vom langen Sitzen auf dem Boden tat ihr der Rücken weh. Als sie die Tür öffnete und hinaustrat, um nach ihren Schuhen zu sehen, wurde sie von der eisigen Luft überrascht, die von allen Seiten auf sie einpeitschte. Es war später, als sie gedacht hatte. Das Gefühl, um diese Zeit noch unterwegs zu sein, verlieh der ganzen Situation etwas Unwirkliches; es kam ihr vor, als würde die echte Soo-Ja noch bei ihren Eltern sitzen, mitten in Won-dae-don, während die andere Soo-Ja ziellos durch die Gegend irrte.
Sie war noch nicht weit gegangen, als jemand ihren Namen rief. Er klang ungewohnt, um diese Uhrzeit, aus beklommener Kehle. Sie drehte sich um und sah Jae-Hwa auf der Treppe ihres Hauses stehen, unbeweglich wie eine Säule, wie Lots Frau, die es gewagt hatte, zurückzuschauen. Jae-Hwa hatte keinen Mantel an und zitterte leicht.
»Er erlaubt mir nicht, meine Kleider mitzunehmen«, sagte sie endlich; eine Silbe nach der anderen schien ihren Lippen zu entschlüpfen. »Er meint, das ist unnötig, da ich sowieso bald zurückkomme.«
Soo-Ja fühlte, wie die Erleichterung sie wieder aufrichtete, dann lächelte sie und streckte Jae-Hwa die Hand hin. Die zögerte und ging dann langsam auf sie zu. Als Jae-Hwa schließlich vor ihr stand, zog Soo-Ja ihren eigenen Mantel aus und legte ihn ihrer Freundin um die Schultern. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie beim Haus von Soo-Jas Eltern ankamen.
Als Soo-Ja nach Hause kam, sah sie Mins Silhouette an der Tür stehen. Es machte sie betroffen, wie jungenhaft und dünn er wirkte. Wenn sie einen Minirock trüge und ihr Haar mit einem Stirnband zurückbände, sähe sie dann auch aus wie ein junges Mädchen? Waren sie beide in Wirklichkeit Teenager, die nur so taten, als wären sie erwachsen? Würde eines Tages ein echtes Ehepaar mit schweren Mänteln und Wollschals vorbeikommen, ihnen dafür danken, dass sie auf ihr Kind aufgepasst hatten, und ihnen Hana wegnehmen, zusammen mit ihrer Heiratsurkunde? Und würden sie und Min dann einander zunicken, das Haus verlassen und in verschiedene Richtungen auseinandergehen, als wären sie bloß Kandidaten in einer Radiosendung gewesen? Wäre sie erleichtert und würde sentimental auf das ganze Abenteuer zurückblicken? Oder würde sie das Leben ohne Min und ihre Schwiegereltern als unerträglich mühelos, fast schon als sinnlos empfinden? Bei ihnen hatte sie schließlich gelernt, selbst die kleinsten Geschenke zu würdigen – wie die geliebte halbe Stunde Ruhe am Morgen, bevor das Haus erwachte, wenn der Tag noch vielversprechend vor einem lag. Oder den Anblick der friedvoll schlafenden Hana. Oder irgendeine der tausend anderen Überraschungen, die den Tag durcheinanderbrachten – wie die Freundin, die vor Dankbarkeit geweint und geflüstert hatte: »Ein besseres Leben … Ja, ein besseres Leben will ich haben.«
»Wo warst du so lange?«, fragte Min. »Was ist passiert?«
»Ziemlich viel«, sagte Soo-Ja bloß und schlüpfte hinter ihm vorbei wie ein Windhauch, die schlafende Hana in den Armen.
»Hast du mit deinem Vater gesprochen?«
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte. Natürlich musste der Schwiegervater Min über seine Pläne informiert haben. Soo-Ja fragte sich, wie Min reagiert hatte. Wahrscheinlich hatte er die Wünsche seines Vaters einfach hingenommen, so wie immer.
»Nein«, entgegnete Soo-Ja knapp. »Ich habe ihn nicht um ein Darlehen gebeten. Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Und das ist auch am besten so. Ich hätte nicht einmal darüber nachdenken sollen, meinen Vater um mehr Geld zu bitten.«
Min folgte ihr ins Zimmer. Er schien gedankenverloren. Aus der Nähe wirkt er ganz anders, dachte Soo-Ja. Er trug einen blauen Pullover mit einer hellgelben Weste darüber und Hosen, die am Knöchel etwas zu kurz waren, sodass seine langen Unterhosen
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