Was dein Herz nicht weiß
Armen und stellte sich vor, wie Min als unsichtbarer Mann von Zimmer zu Zimmer eilte, den Häschern immer knapp einen Schritt voraus. Stumm feuerte sie ihn an, obwohl sie natürlich genau wusste, wo er war: bei einem Verwandten in der Hafenstadt Pusan, für den Fall, dass er in ein Boot springen und tatsächlich nach Japan fliehen musste. Soo-Ja hatte angeboten, mit ihm zu gehen, aber Min hatte darauf bestanden, sich allein zu verstecken – es wäre leichter so, hatte er gesagt, obwohl sie vermutete, dass er seinen Eltern schlicht keine Unannehmlichkeiten bereiten wollte, wenn ihnen die Schwiegertochter nicht zur Verfügung stünde.
Mit der Zeit hatte Soo-Ja genug von den ständigen Besuchen der Polizei. Sie waren wie Gäste, die gern Schnitzeljagd spielten und dabei alles in Unordnung brachten oder (sehr zu ihrem Entsetzen) gar mit Schuhen im Haus herumliefen. Soo-Jas Furcht vor ihnen verwandelte sich bald in Verdruss, besonders als der Einsatzleiter sich einmal erdreistete, Hana zu fragen, ob sie ihren Papa gesehen hätte. Soo-Ja fand es grausam, ein dreijähriges Kind damit zu konfrontieren. Später aber fragte sie sich, ob sie mit ihrem Zorn nicht vielleicht kompensieren wollte, dass sie an Hanas Vaterlosigkeit mitschuldig war.
Soo-Ja wusste nicht genau, wo Min sich befand. In einem seiner Briefe hatte er allerdings ein Haus mit Strohdach in einem abgelegenen Dorf erwähnt. Um dorthin zu kommen, müsse man einen Kartoffelacker, einige Reisfelder und einen Fluss überqueren. Er würde sich entsetzlich langweilen, schrieb er, weil er weder arbeiten noch das Haus verlassen konnte. Es gab kein Radio, und der einzige Mensch, den er zu Gesicht bekam, war sein alter Onkel, der ein- oder zweimal in der Woche mit Töpfen voll wässrigem Reis und ein wenig Banchan vorbeikam – mit Sandkörnern übersäte Kohlrabiwürfel und eingelegter Kohl, der mehr sauer war als würzig. Sie war versucht zurückzuschreiben: Können sie dir nicht ein Ei kochen? Oder ein Huhn schlachten? Soo-Ja fragte sich, ob dieses Leben wirklich viel besser war als das Gefängnis. Aber wenn sie nachts allein im Bett lag und darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass es so schlecht nicht war. Wenigstens konnte er frische Luft atmen und die Sonne auf- und untergehen sehen. Und sie wusste, dass Min in Sicherheit war. Im Augenblick war ihre einzige Sorge, Min könnte seinen Onkel gegen sich aufbringen. Sie glaubte, dass er anfangs Mitleid mit Min haben und ihn beschützen würde, mit der Zeit aber genug von ihm bekommen könnte. Vielleicht würde der Onkel dann nicht mehr so oft zu ihm gehen oder nicht mehr so nett zu Min sein, schwierig zu ertragen wie er war, da er das Leben eines angebundenen Hundes führte.
Um Weihnachten herum beschloss Soo-Ja, Min zu besuchen. Es waren schon fast zwei Monate vergangen, sodass Soo-Ja ein Wiedersehen für kein allzu großes Risiko hielt. Sie wollte nach ihm sehen und Hana mitnehmen, weil sie wusste, dass die Trennung für Vater und Tochter hart war. Wie erklärt man auch einer Dreijährigen, dass die Polizei hinter ihrem Vater her ist und er sich vor ihr verbergen muss? Soo-Ja ahnte, wie gern Hana auf dem vertrauten Schoß ihres Vaters sitzen und wie sehr Min seine Tochter küssen und herzen wollte, bis sie vor Vergnügen kicherte.
Als Soo-Ja den Schwiegervater in ihre Absichten einweihte, nickte dieser und erklärte, dass er mitkommen würde, zusammen mit der Schwiegermutter und den anderen – als hätte er eine sehr seltsame Vorstellung von Familienferien. Soo-Ja erwiderte, dass sie lieber alleine gehen wollte und die Reise überhaupt nur wagte, damit Hana ihren Vater sehen konnte. Aber der Schwiegervater wirkte schrecklich verletzt und beteuerte, er vermisse seinen Sohn mehr als Hana ihren Vater. Soo-Ja konnte zuerst nicht glauben, dass er seine Gefühle mit denen eines Kleinkindes verglich, aber schließlich gab sie nach, erstaunt, dass er anscheinend den Grund vergessen hatte, warum Min sich eigentlich verstecken musste. Der Schwiegervater empfand keine Schuldgefühle, weil er seinen Sohn geopfert hatte oder – was Soo-Ja insgeheim gehofft hatte – Dankbarkeit ihm gegenüber. Sie fragte sich, ob er im Stillen mit seinen Dämonen kämpfte, bis sie begriff, dass sie sich Illusionen machte. Bedauern und Gewissensbisse sind Gefühle, die wir anderen zuschreiben, um die Welt ein wenig anständiger erscheinen zu lassen und uns Trost zu verschaffen. In Wirklichkeit denken die, die Falsches tun, nie so sehr an uns
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