Was dein Herz nicht weiß
wie wir an sie. Darin liegt ja auch die Ironie des Ganzen: Während ihre Taten uns fest im Griff haben und in uns gären, leben sie fröhlich vor sich hin, pflücken saftige Pfirsiche von den Bäumen, beißen hinein und träumen von süßen Dingen.
Min hatte sich sehr verändert. Seine fast jugendliche Körpersprache war verschwunden und seine frühere Prahlerei war der nachdenklichen Stille eines älteren Mannes gewichen. Schon bei ihrer Ankunft teilte er Soo-Ja mit, dass er begonnen habe, mehr zu rauchen, und jeder Zug an seiner Zigarette schien ein einziger Vorwurf an sie zu sein. Zudem hatte er Gewicht verloren, und seine Kleider – ein hellbrauner Pullover mit Rundhalsausschnitt und eine dunkelbraune Bundfalten-Gabardinehose – hingen an ihm wie die vererbten Sachen eines älteren Bruders. Er kam ihr vor wie jemand, der nur auf ihren Wunsch hin zum Leben erwacht war. Als Soo-Ja ihn betrachtete, wurde ihr aber auch etwas anderes bewusst: Sie erkannte, dass sie sich lieber endlos nach ihm sehnte, als diesen unbeholfenen, fremden Körper tatsächlich in ihrer Nähe zu haben.
Der Schwiegervater und die anderen waren im Haus des Onkels nahe des Hafens zurückgeblieben; Soo-Ja und Hana hatten mitten in der Nacht den Weg allein angetreten. Sie mussten knietief durch eiskalte Seen waten, sich durch nasses Marschland und über schlammige Sandbänke schlagen, bis sie das abgeschiedene kleine Haus neben einem verlassenen Kartoffelacker erreichten. Es stand kilometerweit von den Hauptstraßen entfernt, in einer vorwiegend unbewohnten Gegend. Die wenigen Menschen, die in der Nähe lebten – Bauern und Reisfarmer – dachten nicht daran, Min zu belästigen. Obwohl, wie er Soo-Ja in einer Art Verfolgungswahn erzählte, diejenigen, die bei ihm vorbeikamen, sich verhielten, als wüssten sie, dass er sich verstecken musste. Sie achteten darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen und waren froh um den Fluss und die Nacht als Barriere.
Soo-Ja fand, dass dies die schlimmste Art von Einsamkeit war, konnte aber nachvollziehen, dass man sich nach einer Weile darin einrichtete. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Min sich schon nach weniger als einer Stunde wünschte, sie und Hana würden wieder gehen – obwohl er zwei Monate auf ihren Besuch gewartet hatte und es das erste Mal war, dass er mit einem menschlichen Wesen außer seinem Onkel sprechen konnte. Und obwohl er sie unmittelbar nach ihrem Weggang wieder vermissen würde. Soo-Ja spürte, dass ihre und Hanas Anwesenheit an seinen Nerven zerrte, weil sie ihn an all das erinnerten, was er nicht tun konnte. Was auch immer er jetzt unternahm, um sich zu beschäftigen – die Dosen am Fenster zählen, Liegestütze auf dem Boden machen, dieselben Bücher immer und immer wieder lesen – , so waren diese Tätigkeiten wahrscheinlich zu seiner Wirklichkeit geworden, verlässlicher als diese Luftspiegelung von Frau und Tochter, die ihm nur erschienen waren, um wieder zu verschwinden.
Soo-Ja sah zu, wie Min mit Hana spielte, wie sie auf seinem Schoß saß und ihr kleiner Rücken an seinem Bauch lehnte. Sie spielten mit Würfeln, die sie auf dem Boden gefunden hatte. Hana hatte die Angewohnheit, sich auf die Unterlippe zu beißen, wenn sie hoch konzentriert war. Als sie merkte, dass Min sie ansah, schaute sie auf und lächelte kurz, wie aus Dank für die Aufmerksamkeit, bevor sie sich wieder in ihr Spiel vertiefte.
Damit waren die beiden für eine Weile beschäftigt, bis Hana Mins Teller bemerkte, der mit den Früchten und gebratenen Fleischstücken gefüllt war, die Soo-Ja ihm mitgebracht hatte. Hana griff nach einer Süßkartoffel, eine ihrer Lieblingsspeisen. Soo-Ja war versucht, ihr beim Schälen zu helfen, aber sie liebte es, Hana dabei zuzusehen, wie sie solche Dinge allein bewerkstelligte und immer selbstständiger wurde.
Als Hana mit dem Schälen fertig war, erwartete Soo-Ja, dass ihre Tochter die Süßkartoffel essen würde. Aber stattdessen teilte das Mädchen sie in drei Teile. Einen hielt es seiner Mutter entgegen, den anderen seinem Vater, nur ein kleines Stück nahm sie selbst.
»Danke schön, Hana«, sagte Soo-Ja, gerührt von der Geste ihrer Tochter.
»Danke schön, Hana«, erwiderte auch Min und nahm seinen Anteil entgegen. Er steckte die Kartoffel nicht gleich in den Mund, sondern betrachtete sie, als würde er die Liebe seiner Tochter studieren.
Soo-Ja musste die Tränen unterdrücken, als sie merkte, wie sehr Tochter und Vater einander vermissten. Alle drei aßen
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