Was dein Herz nicht weiß
Jahrhunderten für ihre Väter geopfert haben. Wenn hier irgendjemand schuldig ist, dann nicht ich – da ich ja nur meine elterlichen Vorrechte in Anspruch nehme – , sondern Min, weil er nicht von sich aus auf mich zugekommen ist.«
Die Welt, wie ihr Schwiegervater sie erklärte, fühlte sich plötzlich an wie die labyrinthähnlichen Straßen, durch die Soo-Ja als Kind in ihrer Heimatstadt gerannt war. Ohne genau zu wissen, wo man abbiegen musste, würde man tagelang nicht mehr aus ihnen herausfinden, überwältigt von ihren unausgesprochenen Geheimnissen.
»Dann werde ich hier bei Min bleiben«, erklärte Soo-Ja. »Es ist unfair, dass er das allein ertragen muss. Er braucht Hana und mich.«
»Nein. Du wirst mit uns nach Daegu zurückkehren«, entgegnete der Schwiegervater. »Und du wirst deinen Vater um Hilfe bitten.«
Die Schwiegermutter hatte während des gesamten Gespräches geschwiegen. Sie hatte aufgehört, ihr Haar mit Henna zu färben, und war immer stärker ergraut. Ihre Augen – normalerweise wach und gerissen – schienen vernebelt und entrückt. Sie vermisste Min also trotz allem, dachte Soo-Ja. In ihrer Fantasie zauberte die Schwiegermutter den Schwiegervater einfach weg und bekam dafür den Sohn, den sie liebte.
»Sei vernünftig, Soo-Ja«, sagte der Schwiegervater jetzt behutsam, fast schon freundlich. »Geh und rede mit deinem Vater.« Endlich verstand sie, was es mit seiner Anziehungskraft auf sich hatte. Nach all seinen wütenden und bitteren Worten konnte die bloße Andeutung seiner Billigung unwiderstehlich sein. Und bei allem Misstrauen ihm gegenüber war es doch erstaunlich, wie sehr sie noch immer von ihm gemocht werden wollte.
Doch Soo-Ja beschloss, eisern zu bleiben. »Nein, ich werde meinen Vater da nicht hineinziehen. Du musst einen anderen Weg finden.«
Pusan erinnerte Soo-Ja an die Zeit, als ihre Familie damals im Krieg vor den Kommunisten fliehen musste. Sie musste auch an Yul denken, der wenige Monate nach seinem Abschluss an der Medizinischen Fakultät hierhergezogen war. Vier Jahre lang hatten sie einander nicht gesehen. Eine Zeit lang hatte er ihr Briefe geschrieben – nicht an ihre Adresse, sondern an die ihrer Eltern. Ein Finanzier hatte Yul ein Darlehen bewilligt, und so hatte er zusammen mit einem Partner in der stetig wachsenden Hafenstadt eine Praxis eröffnen können. Soo-Ja stellte sich vor, wie er in einem quadratischen Zimmer mit Fenster seine Patienten empfing, vor der Tür eine Tafel so groß wie ein Briefkasten, auf der sein Name eingeprägt und mit schwarzer Tinte nachgezogen war.
Sie wollte Yul unbedingt sehen. Es wäre verrückt gewesen, in Pusan zu sein und ihn nicht zu besuchen. Am Tag vor ihrer Rückreise nach Daegu beschloss sie deshalb, sich nach seiner Adresse zu erkundigen. Sie fand sie recht schnell, indem sie einfach nur die Telefonauskunft anrief. Dort nannte man ihr einen Dr. Yul-Bok Kim, der seine Praxis im Suyeong-gu-Bezirk hatte, in der Nähe des geschäftigsten Marktes der Stadt. Die Frau von der Auskunft gab Soo-Ja auch eine Wegbeschreibung und erklärte ihr, an welcher Bushaltestelle sie aussteigen musste. (»Auf dem Rückweg sollten Sie den Fischmarkt besuchen. So einen guten Tintenfisch haben Sie noch nie gegessen.«) Soo-Ja notierte sich den Straßennamen und starrte dann lange Zeit auf das Stück Papier in ihrer Hand.
Sie wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte und ihrer Tochter die Busfahrt und den Fußmarsch im kalten Wind nicht zumuten konnte. Doch sie traute sich nicht, die Schwiegermutter zu bitten, Hana zu beaufsichtigen, weil die sie mit Fragen bombardieren würde. Und auf die Jungen konnte sie sich nicht verlassen. Sie würden Hana wahrscheinlich am Straßenrand stehen lassen, während sie eine Schneeballschlacht veranstalteten. So blieb nur noch Na-yeong übrig, eine patente Achtzehnjährige, die alt genug war, um schon eine eigene Tochter zu haben. Sie hatte zwar nie viel für Hana übrig gehabt und beschäftigte sich lieber mit ihrer Bibel und den Gesangbüchern, aber Soo-Ja hoffte, dass sie ihr diesen Gefallen tun würde.
»Wo gehst du hin?«, fragte Na-yeong, als sie an der Haustür standen. Soo-Ja legte Hanas Hand in Na-yeongs.
»Ich muss ein paar von meinen Blusen ausbessern lassen. Ich habe meine guten in Daegu vergessen«, antwortete Soo-Ja und schaute an sich herab.
»Hat das nicht Zeit, bis wir zurück sind? Und warum kannst du Hana nicht mitnehmen?«
»Wenn du nicht auf sie aufpassen willst, brauchst du es mir
Weitere Kostenlose Bücher