Was dein Herz nicht weiß
schweigend. Soo-Ja und Min schauten auf Hana. Sie gaben sich der Illusion von Normalität hin und vergaßen beinahe, dass sie viele Meilen von ihrem Zuhause entfernt waren, in einem winzigen Zimmer, kaum größer als ein Toilettenhäuschen. In diesem Augenblick wurde Soo-Ja bewusst, dass der größte Luxus im Leben die Möglichkeit war, Pläne zu schmieden und auf die Zukunft zu bauen. Sie wollte in Zeiträumen von Jahren denken, nicht von Tagen; sie wollte genau wissen, wann Min zurückkommen würde, wann sie ihr früheres Leben wieder aufnehmen konnten. Wie seltsam, dachte sie, dass sie sich verzweifelt nach denselben alten Gewohnheiten sehnte, die sie einst zum Weinen gebracht hatten – so mühsam und öde ihre Tage auch gewesen waren, die Gewissheit hatte sie erträglich gemacht. Es war, als hielte man während eines Albtraums den Atem an und merkte beim Aufwachen, dass man noch immer nicht ausatmen konnte.
Während der Tage in Pusan wohnte Mins Familie im Haus von dessen Onkel, eine gute Stunde vom Versteck entfernt. Weil sie geschätzte Gäste waren, wurde ihnen das beste und größte Zimmer zuteil. Soo-Ja hatte keine Vorstellung, wo der Onkel und seine Familie – seine Frau und der fünfjährige Sohn – schliefen, da es nur zwei weitere kleine Zimmer im Haus gab, beide vollgestopft mit alten Möbeln, ausrangierten Fahrrädern, verstaubten Reis- und Nudelschachteln und einer überraschend umfangreichen Sammlung von Vinylplatten mit einem alten Grammophon.
Alle – Schwiegervater, Schwiegermutter, Na-yeong, Chung-Ho, Du-Ho, In-Ho, Hana und Soo-Ja – schliefen zusammen in einem Zimmer auf dem Boden, einer neben dem andern, wie eine Reihe von horizontalen Linien. Darüber gab es nichts zu streiten oder zu diskutieren. Es wurde schlicht hingenommen. Für viele Familien, die sich kein Haus mit mehr als einem Zimmer leisten konnten, war dies Alltag: die Eheleute und ihre Verwandten kochten, lebten und schliefen im selben Raum.
Während alle anderen sich hervorragend damit arrangierten, fand Soo-Ja den Mangel an Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten unerträglich. Es war zu kalt, um sich lange draußen aufzuhalten, und in den anderen Zimmern hatte Soo-Ja das Gefühl, ihrem Onkel im Weg zu stehen. So musste sie sich stundenlang im selben Raum mit dem Schwiegervater und der Schwiegermutter aufhalten und konnte ihren Groll gegen die beiden nicht verhehlen. Dieses Szenario wäre ihr Leben, wenn – Gott behüte – Min irgendetwas passieren würde.
Soo-Ja, die Hana auf dem Schoß hatte, betrachtete die Familie. In der einen Ecke spielten die Jungen eine Partie Baduk . In der anderen schnitt die Schwiegermutter Na-yeong die Fingernägel. Ihnen gegenüber saß der Schwiegervater allein vor dem Fenster. Er besaß die seltsame Fähigkeit, nichts zu tun, gleichzeitig aber äußerst beschäftigt zu erscheinen, genau wie Kaiser und Könige, die auch bloß die ganze Zeit herumsaßen.
»Es wäre eine Sünde, den ganzen Weg hierherzukommen und nichts zu besichtigen. Morgen gehen wir zum Haundae-Touristenhotel. Wir tun so, als wären wir Gäste, und baden in ihren Heilquellen«, beschloss der Schwiegervater.
Soo-Ja sah ihn ungläubig an: »Und was ist mit deinem Sohn? Du solltest ihn besuchen, während du hier bist.«
Der Schwiegervater drohte ihr mit seinem Rückenkratzer und zischte: »Sag mir nicht, was ich tun soll.«
»Was du tun solltest, ist zur Polizei gehen und zugeben, was du getan hast«, erwiderte Soo-Ja. »Sag ihnen, wie du ihn dazu gebracht hast, für dich die Schuld zu übernehmen.«
»Min kann froh sein, dass er nie verhaftet wurde«, rief der Schwiegervater. »Seit er sieben ist, hat er sich immer wieder in Schwierigkeiten gebracht. Ich musste eine Menge Leute bestechen, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren.«
Soo-Ja erkannte, dass er sie anschreien wollte, aber von irgendetwas zurückgehalten wurde. Da begriff sie, dass er noch immer die Hoffnung hegte, sie würde von ihrem Vater das Geld bekommen.
»Er ist doch dein Sohn. Das kannst du ihm nicht antun«, antwortete Soo-Ja und sah auch die anderen an, in der Hoffnung, ihren Widerstandsgeist zu wecken.
»Du versuchst etwas ungeschehen zu machen, was schon passiert ist. Wenn ich zur Polizei ginge und mich stellte, dann würde es ganz schnell ungemütlich werden. Warum, glaubst du, hat die Polizei so lustlos nach Min gefahndet? Warum, glaubst du, ist Min noch auf freiem Fuß? Weil sie alles wissen, Soo-Ja. Sie wissen es, weil sich Söhne seit
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