Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
halten, ohne dass sie ihm etwas entgegenzusetzen hatte. Mit diesem Kuss hatte er sein Revier markiert und ihr wortlos zu verstehen gegeben, wer hier das Sagen hatte.
Aber offensichtlich war er nicht allzu wütend, denn die Tage vergingen, und sie war immer noch nicht abberufen worden. An den Tagen nach dem Abendessen zitterte Francesca jedes Mal, wenn ihr Chef sie zu sich rufen ließ. Sie stand vor der Tür zu seinem Büro, die Hand erhoben, um anzuklopfen, und dachte: »Jetzt wirft er mich raus.« Aber Mauricio sprach von der Arbeit und fragte sie nach anstehenden Terminen; nur einmal erwähnte er das Essen, und das nur, um sie zu loben. Francesca stotterte ein Danke und wechselte rasch das Thema.
Nachdem die Befürchtung, gefeuert zu werden, aus der Welt geschafft war, wanderten ihre Gedanken weiterhin mit beunruhigender Regelmäßigkeit zu Prinz Kamal.
Was ihre Sorgen komplett machte, waren Aldo und sein Einfall, nach Saudi-Arabien zu reisen. Es hätte sie beruhigt zu wissen, wer den Einreiseantrag bearbeitete. Es musste Malik sein. Aber ihr Verhältnis zu Malik war nicht das Allerbeste; unerklärlicherweise hatte der Araber etwas gegen sie, zu Unrecht, wie sie fand, denn in den Augen dieses Mannes konnte ihr einziger Fehler nur darin bestehen, dass sie eine Frau war. Er redete praktisch nicht mit ihr, grüßte nur knapp, und wenn sie sich im Flur begegneten, warf er ihr ungnädige Blicke zu.
Eine Woche später erhielt sie einen Brief von Aldo – den ersten von vielen. Die schöne, gleichmäßige Handschrift, mit der Francescas Name geschrieben war, entsprach ihrem Bild von dem romantischen, leidenschaftlichen Aldo, den sie geliebt hatte und der so gar nichts mit diesem anderen Mann, diesem unentschlossenen Trinker, gemein hatte. Sie öffnete den Umschlag, doch als sie den Brief herausnehmen wollte, sagte sie sich: ›Wenn ich ihn lese, werde ich Hals über Kopf nach Córdoba zurückkehren und mich in seine Arme werfen.‹ Daher zerriss sie ihn und warf ihn in den Papierkorb. Die Qual wurde immer größer, je mehr Briefe eintrafen. Obwohl es ihr schwerfiel, warf Francesca sie jedes Mal ungelesen weg.
»Du bist so dünn«, stellte Sara schließlich besorgt fest, und Yamile brachte ihr Nüsse und Datteln, die ihre Appetitlosigkeit nur noch verstärkten.
Regelmäßig trafen Briefe von ihrer Mutter und ihrem Onkel ein. Nach ihrem letzten Brief schien Antonina bemerkt zu haben, dass ihre Tochter im selben Haus lebte wie der Botschafter, was sie ganz und gar nicht guthieß. »Es ist ein Unding, dass ein junges Mädchen mit einem alleinstehenden Mann unter einem Dach wohnt«, schrieb sie empört und war nicht davon abzubringen, obwohl Francesca ihr erklärte, dass in Saudi-Arabien niemand einer Frau eine Wohnung vermieten würde und dass sie nicht allein dort wohnte, sondern zusammen mit den übrigen Angestellten und dem Hauspersonal. Erst als Francesca ihr schrieb, dass Marta, eine Argentinierin um die vierzig, als Sekretärin beim Militär- und Finanzattaché angefangen habe, schien sie sich zu beruhigen.
Fredo erkundigte sich nach ihrem Befinden und betonte immer wieder, er könne mit seinem Freund, dem Außenminister, sprechen und ihn um eine Versetzung bitten, wenn sie sich in der Botschaft nicht wohl fühle. Von hier fortgehen? Die Vorstellung erschien Francesca absurd. Sie fühlte sich wohl in Riad: Mauricio respektierte und schätzte sie, Sara und Kasem verwöhnten sie wie eine Tochter, und das übrige Personal mit Ausnahme von Malik mochte sie und war nett zu ihr. Außerdem waren da noch Jacques Méchin und Professor Le Bon, die nach der Abendeinladung häufig vorbeikamen und ihr das Gefühl gaben, dass sie sich gerne mit ihr unterhielten. Bei einem dieser Besuche erzählte ihr Jacques, dass er Wesir von König Abdul Aziz gewesen sei und augenblicklich als Kamals Berater fungiere.
»Wie lange kennen Sie den Prinzen al-Saud schon?«, erkundigte sie sich bei ihm.
»Seit dem Tag seiner Geburt«, antwortete Méchin. »Sein Vater und ich waren damals eng befreundet, und als Kamal sechs Jahre alt wurde, betraute mich Abdul Aziz mit der Erziehung seines Sohnes.«
Le Bon unterbrach Méchin mit einer Bemerkung über die Sorbonne und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Francesca wollte wieder auf das Thema zurückkommen, schwieg dann aber. Damit war die Gelegenheit vertan und es ergab sich keine weitere, etwas über den geheimnisvollen Araber herauszufinden.
Le Bon, der gerade den zweiten Band von
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