Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
Die Kultur der Araber vorbereitete, nahm Mauricio in Beschlag und überhäufte ihn mit Fragen. Er bat ihn um detaillierte Schilderungen der Städte, Oasen und Wüsten, die er kennengelernt hatte. Dabei galt sein besonderes Interesse den Bräuchen der Beduinen, und vor allem begeisterte ihn das innige Verhältnis zu ihren Pferden. Francesca verfolgte diese Gespräche aufmerksam, sicher, dass hin und wieder der Name Kamal al-Saud fallen würde.
Eines Abends, als Méchin und Le Bon sich in der Halle verabschiedeten, erkundigte sich Mauricio, wann Kamal aus Washington zurückkehren würde. ›Washington …‹, dachte Francesca. Unerklärlicherweise war sie froh zu wissen, dass er nicht in Riad war. Hunderte Male hatte sie sich gefragt, warum er seine Freunde nicht bei ihren Besuchen in der Botschaft begleitete. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass Kamal nicht mehr an sie dachte oder sie bestenfalls als unhöfliche, kleine Sekretärin in Erinnerung hatte, und nahm sich vor, ihn zu vergessen. Und dieser Kuss? Sie betrachtete ihr Handgelenk und spürte erneut seine Lippen auf ihrer Haut.
***
»Wo ist Kasem?«, rief Francesca aus der Küche.
»Er ist mit dem Botschafter weggefahren. Er sagte, dass es spät wird.«
»Und Malik?«
»Ich bin hier, Mademoiselle«, antwortete der Araber und erschien in der Küche.
Francesca hatte den Eindruck, als besäße Malik die Gabe, allgegenwärtig zu sein. Im einen Augenblick sah sie ihn im Büro des Botschafters, in Papiere und Akten vertieft, und im nächsten Augenblick begegnete sie ihm im Flur, fast so, als hätte er seine Augen und Ohren überall.
»Ich brauche dich«, sagte sie knapp und bestimmt. »Du musst mich zum Markt fahren.«
Der Mann senkte zustimmend den Kopf und ging hinaus.
»Kann ich deine abaya anziehen, Sara? Meine ist noch nicht trocken.«
»Du bist viel größer als ich. Sie wird deine Beine nicht vollständig bedecken.«
»Ach, Sara, es ist doch nur für einen Augenblick! In dem Gewühl auf dem Markt wird niemand sehen, ob meine Beine bedeckt sind oder ob ich einen Mini trage.«
»Einen Mini?«, fragten Sara und Yamile wie aus einem Mund.
»Einen Mini. Einen Rock, der bis hierhin reicht.« Sie deutete auf den Oberschenkel.
»Bei Allah, dem Barmherzigen!«, rief die Algerierin aus. »Willst du nicht lieber Yamile oder mich schicken? Was brauchst du denn?«
»Ich muss selbst fahren. Heute Morgen hat mich der Botschafter gebeten, ein Geschenk für die Frau des italienischen Botschafters zu besorgen. Er wusste ganz genau, was er wollte. Ich muss selbst los«, betonte sie noch einmal.
Francesca zog die Tunika über und ging zum Auto. Als sie das Diplomatenviertel verließen, zeigte die Stadt ihr orientalisches, pittoreskes Gesicht. Grüppchen vollverschleierter Frauen gingen vorüber, den Kopf gesenkt, die Hände auf Höhe des Gesichts, um den Schleier zurechtziehen zu können, gefolgt von Kindern und Hunden.
Malik hielt an und ließ einen Ziegenhirten mit seinen Tieren passieren. Ein paar Meter weiter kämpfte ein Mann mit einem widerspenstigen Ochsen. Vor einem Haus sah sie Hühner und Truthähne zwischen den Pflastersteinen picken; dazwischen krabbelten zwei schmutzige Babys, die nichts als Windeln trugen. Francesca riskierte es, ihr Gesicht zu entschleiern, um deutlicher ein Augenpaar hinter einem Fenstergitter sehen zu können, das sie traurig ansah. Tränen glitzerten darin. Malik setzte den Wagen wieder in Fahrt und fuhr rasch die Straße entlang. Dieser Blick ging ihr zu Herzen. Wer war diese Frau? War es das Fenster eines Harems? Schlief ihr Ehemann, geliebt und gefürchtet, in diesem Augenblick mit einer anderen seiner Frauen? Weshalb begehren sie nicht auf?, fragte sich Francesca wütend.
In der Ferne tauchte aus einer Staubwolke der zinnenbewehrte Turm des Fort Masmak auf, wo König Abdul Aziz seine langjährigen Gegner, den Clan der Ibn Raschid, besiegt hatte. Mauricio hatte ihr erzählt, dass dieses Fort das Symbol der Überlegenheit und Macht der Männer aus der Familie al-Saud war, denen die Liebe zu ihrem Land, die Traditionen und Wagemut über alles gingen und die deshalb bereit waren, stolz zu sterben und so den Ruhm ihres Namens und den ihrer Nachfahren zu mehren. »Der Orient kämpft mit völlig anderen Waffen als der Okzident, aber er kämpft und ist als Gegner zu fürchten, denn er wird entweder siegen oder bei dem Versuch sterben.« Francesca erinnerte sich an die Worte Kamals, die allmählich Sinn ergaben, je mehr sich die
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