Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
wird entweder siegen oder bei dem Versuch sterben. Der Westen begreift das nicht; das gereicht uns zum Vorteil.«
Die Übrigen verfolgten gebannt den Wortwechsel zwischen dem Prinzen und der Sekretärin, die sich einen Schlagabtausch mit Kamal al-Saud lieferte, den niemand am Tisch anzufangen gewagt hätte.
»Du hast offensichtlich viel über diese Fragen gelesen«, schaltete sich der Botschafter ein. »Wenn ich gewusst hätte, dass du dich mit den Problemen des Mittleren Ostens so gut auskennst, hätte ich dich öfter um Rat gefragt.« Die Übrigen lachten, mit Ausnahme von Kamal, der sich wieder dem Essen widmete. Als sie sah, wie ernst und schweigsam er war, bereute Francesca ihre Worte. Sie begriff immer noch nicht, warum sie so hart und sogar unverschämt gewesen war. Sie hatte ihn beleidigt, indem sie sein Volk als leidenschaftlich und enthusiastisch bezeichnete, wo doch nur einem Idioten entgangen wäre, dass sie eigentlich überschwänglich und fanatisch meinte. Aber sie hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt, die Worte waren einfach so aus ihr herausgesprudelt, und die Abneigung, die sie gegenüber den Arabern empfand, hatte sich gegen ihn gerichtet.
»Wo hast du das alles gelesen?«, fragte Mauricio, der nicht aus dem Staunen herauskam.
»Ich muss zugeben, dass mein Onkel Alfredo und ich bei unseren langen Unterhaltungen oft auf dieses Thema zu sprechen kamen. Er hat mir nicht nur eine Unmenge von Büchern empfohlen, sondern mir auch diese ganze Geschichte mit dem Erdöl erklärt und seine Meinung darüber gesagt.«
»Francescas Onkel«, erklärte Dubois, »Alfredo Visconti, ist ein bekannter argentinischer Journalist und Schriftsteller. Er leitet eine Zeitung in Córdoba und schreibt Kolumnen für zwei der auflagenstärksten Tageszeitungen von Buenos Aires.«
»Ein Bruder Ihrer Mutter, nehme ich an«, erkundigte sich Jacques.
»Wir sind eigentlich nicht verwandt. Er ist mein Taufpate, und das ist für uns Sizilianer von großer Bedeutung.«
»Aber Sie sind doch Argentinierin?«, fragte Le Bon.
»Ich schon, aber meine Eltern stammen aus Sizilien.«
»In der Antike hielt mein Volk die Insel Sizilien acht Jahrhunderte lang besetzt«, bemerkte Ahmed.
»Und das hinterließ bedeutende Spuren«, setzte Le Bon hinzu. »In meinem Buch Die Kultur der Araber widme ich mich eingehend dieser Frage.«
Ah, daher kam ihr der Name bekannt vor. Gustave Le Bon, Autor von La Civilisation des Arabes , das sie in Genf gelesen hatte.
»Ein hervorragendes Buch«, versicherte Francesca. »Und sehr unterhaltsam obendrein.«
»Sie haben es gelesen?«, fragte der Franzose stolz.
Es entspann sich ein Gespräch über Bücher, Schriftsteller und Schreibstile, das man im Salon fortsetzte, während der Kaffee serviert wurde. Gelangweilt von einer Unterhaltung, zu der sie nichts beizutragen hatte, nahm Valerie sich vor, die Aufmerksamkeit des attraktiven Prinzen zu wecken, der seit dem Schlagabtausch mit der Sekretärin nichts mehr gesagt hatte. Sie nahm neben ihm auf dem dreisitzigen Sofa Platz und schlug lasziv die Beine übereinander. Francesca sah unauffällig zu ihnen herüber und gesellte sich dann zu Jacques, der trotz Le Bons Einspruch hartnäckig daran festhielt, dass Marlowe höher einzuschätzen sei als Shakespeare.
Mit einer brüsken Bewegung, die Valerie verwirrte, erhob sich Kamal vom Sofa und trat an die Verandatür, wo er sich eine Zigarette anzündete und rauchte, den Blick in den Sternenhimmel gerichtet. ›Ein junges Mädchen‹, dachte er und lächelte. Er wandte sich um und sah sie an. Nichts an ihr ließ auf ihre erst einundzwanzig Jahre schließen, weder ihre Figur noch ihr Auftreten, noch ihre Klugheit. Vielleicht ihr zartes, empfindsames Gesicht.
»Leben Sie schon lange in Saudi-Arabien?«, fragte Francesca Jacques gerade.
»So lange, dass ich mich gar nicht mehr als Franzose fühle. Ich bin nach Saudi-Arabien gekommen, als es noch gar nicht Saudi-Arabien war, sondern eine Ansammlung von Stämmen, die durch die Wüste zogen und häufig erbitterte Kämpfe um ihre Territorien austrugen.«
Die Stimme des Mannes nahm sie gefangen. Sie fand die Geschichten von Beduinen, Kriegen, Karawanen und Scheichs unglaublich spannend, nicht zuletzt, weil sie an Märchen aus Tausendundeiner Nacht erinnerten. Sie musste zugeben, dass die Araber ebenso rätselhaft wie faszinierend waren. Ein bisschen brutal, ein bisschen aufbrausend, voller Leben und Leidenschaft, stolz wie kaum ein anderes Volk, aber nicht eitel,
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