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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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Nolan Myers. Offenbar müssen wir einen Menschen nicht kennen, um zu dem Schluss zu kommen, dass wir ihn kennen. Es scheint auch keine Rolle zu spielen, ob man sein Urteil wie Partovi nach einem einstündigen Vorstellungsgespräch fällt, wie ich nach einem anderthalbstündigen Plausch in einem Cafe oder wie Ballmer nach einer kurzen Frage aus dem Publikum.
    Bernieri und Amady glauben, dass der erste Eindruck deshalb eine solche Rolle spielt, weil wir als Menschen über eine nicht-rationale Fähigkeit verfügen, Urteile über andere zu fällen. In ihren Experimenten ließ Amady ihre Versuchsteilnehmer beim Ansehen der Videos eine potenziell ablenkende kognitive Tätigkeit durchführen und sie beispielsweise eine Zahlenreihe auswendig lernen. Dies hatte keinerlei Einfluss auf ihre Beurteilung der Qualität der Dozenten. Als sie die Zuschauer jedoch bat, gründlich nachzudenken, ehe sie ihre Urteile fällten, ergaben sich größere Abweichungen. Denken wirkt offenbar störend. »Die beteiligten Gehirnstrukturen sind sehr primitiv«, vermutet Amady. »Diese emotionalen Reaktionen werden vermutlich von den niederen Gehirnfunktionen kontrolliert.« Das heißt, im ersten Augenblick nehmen wir offenbar etwas sehr Grundlegendes über den Charakter eines Menschen wahr, denn es stimmt weitgehend mit dem Urteil überein, das wir nach zwanzig Minuten oder einem ganzen Semester fällen. »Möglicherweise erkennen wir sofort, ob jemand ex- trovertiert ist, oder wir können seine kommunikativen Fähigkeiten abschätzen«, erklärt Bernieri. »Diese Hinweise sind scheinbar sofort erkennbar.« Bernieri und Amady gehen also davon aus, dass es so etwas wie eine starke, menschliche Intuition gibt. Das ist zum einen tröstlich, denn es bedeutet, dass wir einem wildfremden Menschen begegnen und sofort wichtige Informationen über ihn aufnehmen können. Es bedeutet auch, dass ich mir keine Gedanken darüber machen sollte, dass ich mir meine Sympathie für Nolan Myers nicht erklären kann, denn wenn wir solche Urteile fällen ohne nachzudenken, dann lassen sie sich auch nicht erklären.
    Diese Erkenntnis hat jedoch auch etwas Beunruhigendes. Ich glaube durchaus, dass Nolan Myers ein kluger und liebenswerter Mensch ist. Doch nach unserer kurzen Begegnung habe ich keine Ahnung, wie ehrlich er ist, ob er ein Egozentriker ist, ob er am besten allein oder im Team arbeitet und so weiter. Dass Menschen, die nur einen Händedruck sehen, zu demselben Schluss kommen wie Menschen, die ein einstündiges Vorstellungsgespräch führen, legt den Verdacht nahe, dass dieser erste Eindruck vielleicht überbewertet sein und alle späteren Eindrücke färben könnte.
    Beispielsweise fragte ich Myers, ob ihn der Wechsel von der Universität in die Arbeitswelt nervös mache. Das schien mir eine vernünftige Frage zu sein, denn ich erinnere mich, dass ich erheblichen Bammel vor meinem ersten Job hatte. Hatte er Angst vor der Arbeitsbelastung? Nein, antwortete er, er arbeite heute schon achtzig bis hundert Stunden pro Woche für die Universität. »Gibt es Dinge, die du nicht so gut kannst, wegen derer du dir Sorgen machst?«, fragte ich weiter.
    Scharf antwortete er: »Gibt es Dinge, die ich nicht so gut kann, oder Dinge, die ich nicht lernen kann? Ich glaube, dass ist die eigentliche Frage. Es gibt eine Menge Dinge, von denen ich keine Ahnung habe, die ich aber in der richtigen Umgebung und mit der richtigen Unterstützung lernen kann.« In meinen Notizen vermerkte ich »Großartige Antwort!«, und ich erinnere mich, wie ich diesen positiven Kick verspürte, den vermutlich auch Gesprächsführer in einem Vorstellungsgespräch fühlen, wenn jemand ihren Erwartungen entspricht. Weil ich ihn von Anfang an sympathisch fand, hörte ich in dieser Antwort Entschlossenheit und Selbstvertrauen. Hätte ich ihn jedoch von Anfang an unsympathisch gefunden, dann hätte seine Antwort vielleicht arrogant und selbstgefällig auf mich gewirkt. Der erste Eindruck wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Wir hören, was wir hören wollen. Im Vorstellungsgespräch haben die Netten einen Bonus.
3.
    Als Ballmer, Partovi und ich Nolan Myers kennen lernten, trafen wir eine Vorhersage. Wir beobachteten, wie er sich in unserer Gegenwart verhielt - wie er sprach, sich bewegte und zu denken schien - und zogen Schlüsse darauf, wie er in anderen Situationen auftrat. Ich hatte beispielsweise den Eindruck, Myers sei jemand, den man am Abend vor einer schwierigen Matheprüfung

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