Was der Hund sah
Titanic. Diese Bilder sollten ihm helfen, bescheiden zu bleiben, erklärte er.
»Die Essex interessiert mich unter anderem deshalb so, weil ihr Kapitän kurz nach der Rückkehr nach Nantucket ein neues Schiff bekommen hat«, erzählte Niederhoffer. »Man hat ihn vermutlich für einen guten Kapitän gehalten, weil er es zurück geschafft hatte, nachdem sein Schiff gerammt worden war. Der Kapitän wurde gefragt: ›Wie kam es, dass man Ihnen ein neues Schiff anvertraut hat?‹ Und er antwortete: ›Ich nehme an, sie meinten, der Blitz würde nicht zwei mal den Gleichen treffen.‹ Der erste Unfall war eine vollkommen willkürliche Sache gewesen. Aber sein zweites Schiff hat er auch verloren. Im Eis steckengeblieben. Dabei ist ein Mann ums Leben gekommen. Er hat nichts unternommen, um ihn zu retten. Sie mussten ihn regelrecht von Bord zerren. Den Rest seines Lebens hat er als Hausmeister in Nantucket gelebt. An der Wall Street nennt man so jemanden ein Gespenst.« Niederhoffer war wieder in seinem Arbeitszimmer, sein schlanker Körper gestreckt, die Beine auf dem Schreibtisch, der Blick ein wenig angestrengt. »Verstehen Sie? Ich kann es mir nicht leisten, ein zweites Mal zu scheitern. Es wäre der Untergang. Deswegen die Pequod.«
Einen Monat bevor Niederhoffer hochging, traf sich Taleb mit ihm zum Abendessen in Westport, und Niederhoffer erzählte ihm, dass er nicht gedeckte Optionen verkaufte. Man kann sich die beiden nur zu gut vorstellen, wie sie einander gegenübersitzen und Niederhoffer erklärt, dass seine Wette ein annehmbares Risiko darstellt, weil die Wahrscheinlichkeit gegen null geht, dass der Markt weit genug fällt, um ihn zu ruinieren, während Taleb kopfschüttelnd zuhört und an schwarze Schwäne denkt. »Nach dem Essen war ich deprimiert«, erinnert er sich. »Dieser Mann schlägt tausend Rückhandschläge. Er spielt Schach, als würde sein Leben davon abhängen. Wenn sich dieser Mann etwas vornimmt, dann macht er es, und zwar besser als alle anderen. Er ist mein Held ...« Das war der Grund, weshalb Taleb nicht mit Niederhoffer tauschen wollte, auch nicht, als dieser auf dem Gipfel stand, und warum er nicht auf das Silber, das Haus und die Tennisspiele mit George Soros neidisch war. Er sah zu genau, wo das alles enden konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er schon, wie sich Niederhoffer von seinen Kindern Geld lieh, sein Silber verkaufte und mit hohler Stimme klagte, er habe seine Freunde im Stich gelassen. Taleb wusste, dass er nicht die Kraft hatte, um mit dieser Möglichkeit zu leben. Anders als Niederhoffer hielt sich Taleb nicht für unbesiegbar. Das war undenkbar für jemanden, der Zeuge geworden war, wie seine Heimat im Bürgerkrieg versank, und der bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 100 000 an Kehlkopfkrebs erkrankt war. Für Taleb gab es keine Alternative zu dem schmerzhaften Prozess, mit dem er sich gegen die Katastrophe absicherte.
Diese Vorsicht wirkt natürlich alles andere als heldenhaft. Sie wirkt eher wie die freudlose Ängstlichkeit eines Buchhalters oder eines Sonntagsschullehrers. Wir fühlen uns eher zu den Niederhoffers dieser Welt hingezogen, denn tief in unserem Inneren fühlen wir uns ihnen verwandt: Wir verwechseln die Bereitschaft, das Scheitern zu riskieren - und die Fähigkeit, sich von der Katastrophe zu erholen - mit Mut. Doch wir täuschen uns. Das ist die Lektion von Taleb und Niederhoffer, und das ist die Lektion für unsere volatilen Zeiten. Es sind mehr Mut und Heldentum erforderlich, dem menschlichen Instinkt nicht nachzugeben und bewusst schmerzhafte Maßnahmen zu ergreifen, um sich auf das Unvorstellbare vorzubereiten.
Im Herbst 2001 verkaufte Niederhoffer eine große Zahl von Optionen, weil er darauf spekulierte, dass die Märkte ruhig bleiben würden. Und das waren sie auch, bis aus dem Nichts zwei Flugzeuge in das World Trade Centre flogen. »Ich hatte mich exponiert. Es war ein schwerer Schlag.« Niederhoffer schüttelte den Kopf, denn es war völlig unmöglich, die Ereignisse des 11. September vorherzusehen. »Das war ein vollkommen unerwartetes Ereignis.« {*}
22. und 29. April 2002
Farbe bekennen
Haarfärbemittel und die vergessene Geschichte der amerikanischen Nachkriegszeit
1.
Während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, lange bevor sie eine der berühmtesten Werbetexterinnen des Landes wurde, lernte Shirley Polykoff einen Mann namens George Halperin kennen. Er war der Sohn eines orthodoxen Rabbiners aus Reading, Pennsylvania, und
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