Was der Hund sah
Frauen wusste
1.
John Rock wurde 1890 in der Kirche der Unbefleckten Empfängnis in Marlborough, Massachusetts getauft und später von Kardinal William O’Connell in Boston getraut. Er hatte fünf Kinder und neunzehn Enkel. Über seinem Schreibtisch hing ein Kruzifix, und als Erwachsener besuchte er fast jeden Tag die Morgenmesse in St. Mary’s in Brookline. Seine Freunde meinten, Rock wäre in seine Kirche verliebt. Er war außerdem einer der Erfinder der Anti-Baby-Pille, und er war überzeugt, dass sein Glaube und sein Beruf absolut miteinander vereinbar waren. Wer anderer Meinung war, dem wiederholte er einfach die Worte, die ihm sein Gemeindepfarrer als Kind mit auf den Weg gegeben hatte: »John, halt dich an dein Gewissen. Überlass das niemand anderem. Niemandem.« Selbst als Monsignore Francis W. Carney aus Cleveland ihn einen »moralischen Vergewaltiger« schimpfte und als Frederick Good, langjähriger Leiter der Geburtshilfeabteilung des Boston City Hospital, den Bostoner Kardinal Richard Cushing aufsuchte, um Rock exkommunizieren zu lassen, blieb Rock ungerührt. »Sie sollten sich fürchten, eines Tages vor Ihren Schöpfer zu treten«, schrieb ihm eine zornige Frau kurz nach der Zulassung der Pille. »Verehrte Dame«, schrieb Rock zurück, »mein Glaube hat mich gelehrt, dass der Herr stets bei uns ist. Wenn meine Zeit kommt, wird man uns nicht vorstellen müssen.«
Nach der Zulassung der Pille durch die Food and Drug Administration, die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde, im Jahr 1960 war Rock allgegenwärtig. Er erschien in Dokumentationen und Interviews in CBS, NBC, Time, Newsweek, Life und The Saturday
Evening Post . Er schrieb ein breit diskutiertes Buch mit dem Titel Geburtenkontrolle: Vorschläge eines katholischen Arztes, das auch in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden erschien. Rock war 1,85 Meter groß, spindeldürr und hatte tadellose Umgangsformen. Er hielt seinen Patientinnen die Tür auf und redete sie mit Miss und Mrs. an. Allein die Tatsache, dass er mit der Pille zu tun hatte, gab ihr einen respektablen Anstrich. »Er war ein sehr würdevoller Mann«, erinnert sich Dr. Sheldon J. Segal vom Population Council. »Selbst bei informellen Anlässen trug er stets Krawatte. Er hatte weiße Haare und eine aufrechte Haltung, bis zum Schluss.«
An der Harvard Medical School war er einer der Großen und unterrichtete mehr als drei Jahrzehnte lang Geburtshilfe. Er war einer der Pioniere der künstlichen Befruchtung und der Einlagerung von Spermazellen, und er war der erste, der eine intakte befruchtete Eizelle entnahm. Die Pille war sein Meisterwerk. Seine beiden Kollegen Gregory Pincus und Min-Cheuh Chang arbeiteten an der Wirkung, während er die klinischen Versuche leitete. »Sein Name und sein Ruf waren die Garantie dafür, dass die Pille Frauen tatsächlich vor ungewollten Schwangerschaften schützte«, schrieb Loretta McLaughlin 1982 in ihrer hervorragenden Biografie John Rocks. Kurz vor der endgültigen Zulassung fuhr Rock nach Washington, um vor dem Gesundheitsministerium die Unbedenklichkeit der Pille zu bestätigen. In der Anhörung sagte Pasquale DeFelice, ein katholischer Geburtsarzt von der Georgetown University, der die Befragung leitete, plötzlich das Undenkbare: Die katholische Kirche werde der Pille nie zustimmen. »Ich sehe noch genau, wie Rock dastand, ganz ruhig, und DeFelice ansah«, erinnerte sich ein Kollege Jahre später. »Mit einer Stimme, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, sagte er: ›Junger Mann, unterschätzen Sie meine Kirche nicht.‹«
Seine Kirche sollte ihn schließlich doch enttäuschen. In der Enzyklika »Humanae Vitae« verbot Papst Paul VI. im Jahr 1968 orale Verhütungsmittel und alle anderen »künstlichen« Methoden der Geburtenkontrolle. Die Leidenschaft, mit der die Diskussionen um die Geburtenkontrolle in den sechziger Jahren geführt wurde, ist heute fast vergessen. John Rock bleibt jedoch eine wichtige Persönlichkeit, und sei es nur, weil er bei dem Versuch, seine Kirche und seine Arbeit in Einklang zu bringen, einen Fehler gemacht hat. Es war kein bewusster Fehler. Er wurde erst nach seinem Tod erkennbar, und aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ihm noch nicht zur Verfügung standen. Doch dieser Fehler prägte die Art und Weise, wie er über die Pille dachte - was sie war, wie sie funktionierte, und vor allem was sie bedeutete -, und weil John Rock einer der Geburtshelfer der Pille war,
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