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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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werden konnte, warum dann nicht nur durch die Pille? In jedem Fall wurde der Eisprung als Mittel verwendet. Welchen Unterschied machte die Beigabe des Kalenders?
    So scholastisch diese Argumente anmuten mögen, sie waren entscheidend für die Entwicklung oraler Verhütungsmittel. John Rock und Gregory Pincus entschieden, dass die Pille über einen Vier-Wochen-Zyklus eingenommen werden sollte - Frauen nahmen die Pille drei Wochen lang ein und setzten sie in der vierten Woche ab (oder nahmen ein Plazebo), um die Monatsblutung zuzulassen. Einen medizinischen Grund dafür gab und gibt es nicht. Eine Frau im gebährfähigen Alter hat im Normalfall einen Zyklus von rund 28 Tagen, der durch die Ausschüttung von Hormonen in ihren Eierstöcken reguliert wird. Wenn erst Östrogen und dann eine Mischung aus Östrogen und Progesteron auf den Uterus einwirken, schwillt das Gewebe an, um die Einnistung der befruchteten Eizelle vorzubereiten. Wird die Eizelle nicht befruchtet, sinkt der Hormonspiegel wieder, woraufhin das Gewebe - das Endometrium - mit der Monatsblutung ausgespült wird.
    Wenn eine Frau die Pille nimmt, wird jedoch keine Eizelle freigesetzt, da die Pille den Eisprung unterdrückt. Die Produktion von Östrogen und Progesteron, die ein Anschwellen des Gewebes im Uterus bewirken, wird drastisch reduziert, da die Pille die Aktivität der Eierstöcke verlangsamt. Pincus und Rock wussten, dass die Auswirkungen der Hormone in der Pille auf die Gebärmutterschleimhaut minimal waren und eine Frau theoretisch Monate lang keine Blutungen haben konnte. »Da das Präparat während seiner Einnahme Regelblutungen unterbindet«, schrieb Pincus 1958, »ließe sich vermutlich ein Zyklus jeder beliebigen Dauer herstellen«. Doch er und Rock beschlossen, die Hormongabe nach drei Wochen zu unterbrechen, um die Menstruation einzuleiten, weil sie meinten, Frauen empfänden ein Gefühl der Sicherheit, wenn ihre monatlichen Blutungen fortgesetzt würden. Wichtiger war jedoch, dass Rock schwerlich den Monatszyklus abschaffen konnte, wenn er beweisen wollte, dass die Pille nichts anderes war als eine natürliche Variante der Kalendermethode. Diese Methode erfordert Regelmäßigkeit, also musste die Pille diese Regelmäßigkeit herstellen.
    Es wurde oft angemerkt, dass die Pille wie kein anderes Medikament an ihrer Verpackung zu erkennen war: einer kleinen, runden Plastikdose. Was war die runde Dose anderes als die Verkörperung des 28-Tages-Zyklus? Nach Ansicht des Erfinders sollte die Packung aussehen wie ein Kosmetikdöschen und von ihrer Besitzerin so mitgeführt werden können, »dass sie keinen Hinweis auf Dinge gibt, die niemanden etwas angehen als sie selbst«. Die Pille wird noch immer häufig in runden Verpackungen verkauft und in 28-Tages-Zyklen eingenommen. Sie richtet sich also noch immer nach den Vorgaben der katholischen Kirche und dem Wunsch John Rocks, die neue Verhütungsmethode so natürlich wie möglich erscheinen zu lassen. Das genau war jedoch John Rocks Fehler. Er war besessen von der Vorstellung der Natürlichkeit. Doch was er für natürlich hielt, erwies sich als gar nicht so natürlich, und die Pille, die er in die Welt setzte, erwies sich als etwas anderes als das, wofür er sie hielt. In John Rocks Kopf gerieten das Diktat der Religion und die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit durcheinander, und erst heute beginnen wir, sie wieder zu entwirren.
2.
    Im Jahr 1986 reiste eine Wissenschaftlerin namens Beverly Strassmann nach Afrika, um in Mali beim Stamm der Dogon zu leben. Ihr Ziel war das Dorf Sangui in der Sahelzone, etwa 120 Kilometer südlich von Timbuktu. Die Sahelzone ist eine Dornensavanne, die während der Regenzeit grün ist, und im Rest des Jahres halbtrocken. Die Dogon pflanzen Hirse, Sorghum und Zwiebeln, züchten Vieh und leben in Lehmhütten. Sie verwenden keine Verhütungsmittel. Viele leben nach ihren traditionellen Bräuchen und Glaubensvorstellungen. Dogonbauern leben weitgehend noch so wie ihre Vorfahren vor Tausenden Jahren. Strassmann wollte ein genaues Profil des Reproduktionsverhaltens der Frauen des Stammes ermitteln, um zu verstehen, wie die weibliche Biologie in den Jahrtausenden vor der Moderne ausgesehen haben könnte. Im Grunde versuchte sie dieselbe Frage zu beantworten, mit der Rock und die Katholische Kirche Anfang der sechziger Jahre gerungen hatten: Was ist natürlich? Nur dass sie den Begriff »Natur« nicht theologisch, sondern evolutionsbiologisch auffasste. Wie häufig bekamen

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