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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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gekostet, dass wir nichts für Murray getan haben«, meint O’Bryan.
2.
    Nach der Misshandlung von Rodney King und der Veröffentlichung der Videos herrschte bei der Polizei von Los Angeles Krisenstimmung. Ihr wurden Rassismus, unangemessene Gewaltanwendung und mangelnde Disziplin vorgeworfen. Es hieß, diese Probleme beträfen die gesamte Truppe. Um es mit der Sprache der Statistiker zu sagen, behaupteten die Kritiker, die Übergriffe ließen sich nach den Gesetzen der »Normalverteilung« beschreiben, das heißt, wenn man es grafisch darstellen würde, dann ähnele das Ergebnis einer Glockenkurve: Am einen Ende befände sich eine kleine Zahl von gewalttätigen Polizisten, am anderen eine ebenso kleine Zahl von unauffälligen Beamten, und das Hauptproblem sei in der breiten Mitte zu suchen. Das Schema der Glockenkurve hat sich derart in unseren Köpfen festgesetzt, dass wir es fast automatisch über alles stülpen.
    Als die Polizei von Los Angeles von einer Sonderkommission unter der Leitung von Warren Christopher untersucht wurde, ergab sich jedoch ein vollkommen anderes Bild. Zwischen den Jahren 1986 und 1990 wurden gegen 1 800 der 8 500 Polizeibeamten Beschwerden wegen unangemessener Gewaltanwendung und Verstößen gegen die Dienstordnung erhoben. Die Mehrzahl war nie auffällig geworden. Gegen mehr als 1 400 Beamte lagen in dem untersuchten Zeitraum von vier Jahren nur eine oder zwei Beschwerden vor - wobei die Verstöße nicht nachgewiesen werden konnten und Vorwürfe wegen unangemessener Gewaltanwendung gegen Polizisten in den Großstädten an der Tagesordnung sind. (In New York gehen beispielsweise pro Jahr 3 000 solcher Beschwerden ein.) Gegen 183 Beamte lagen im gleichen Zeitraum vier oder mehr Beschwerden vor, gegen 44 sechs oder mehr, gegen 16 acht oder mehr, und gegen einen lagen sechzehn Beschwerden vor. Das heißt, wenn man die Übergriffe grafisch darstellen wollte, verteilten sie sich nicht nach der Glockenkurve. Die Grafik ähnelt eher einem Eishockeyschläger. In diesem Fall sprechen Statistiker von einer Exponentialverteilung - das Problem befindet sich nicht in der Mitte, sondern an einem Ende.
    Der Bericht der Christopher Commission kommt wiederholt auf diese Konzentration problematischer Beamter zu sprechen. Gegen einen der Beamten lagen dreizehn Beschwerden wegen unangemessener Gewaltanwendung, fünf andere Beschwerden, 28 interne Berichte wegen Verstößen gegen die Dienstordnung und eine Untersuchung wegen einer Schießerei vor. Ein anderer hatte sechs Beschwerden wegen unangemessener Gewaltanwendung, neunzehn sonstige Beschwerden, zehn interne Berichte und drei Untersuchungen wegen Schießereien. Gegen einen dritten lagen 27 Berichte vor, gegen einen vierten 35. Die Akte eines weiteren Beamten war voller Beschwerden, weil er beispielsweise grundlos mit der Pistole einem mit Handschellen gefesselten und am Boden knienden Verhafteten ins Genick geschlagen hatte, weil der einen Dreizehnjährigen verprügelt hatte, und weil er einen mit Handschellen gefesselten Verhafteten von einem Stuhl gestoßen und den am Boden liegenden in Rücken und Kopf getreten hatte.
    Der Bericht vermittelt den Eindruck, dass sich die Polizei von Los Angeles mit einem Mal in eine gut funktionierende Truppe verwandeln würde, wenn man diese 44 Beamten entlassen würde. Der Bericht deutet allerdings auch an, dass das Problem nicht ganz so einfach zu beseitigen ist, denn diese 44 bösen Polizisten waren offenbar so böse, dass die institutionellen Mechanismen zur Beseitigung der schwarzen Schafe nicht mehr griffen. Wenn man fälschlich davon ausging, dass die Probleme der Truppe einer Normalverteilung unterlagen, dann ergriff man Maßnahmen, um die Leistung der Mitte zu optimieren - etwa durch bessere Ausbildung und Auswahlverfahren -, obwohl diese Mitte gar keine Hilfe benötigte. Und für die wenigen, die tatsächlich Hilfe brauchten, reichten die Maßnahmen, die auf die breite Mitte zielten, bei Weitem nicht aus.
    In den achtziger Jahren, als das Phänomen der Obdachlosigkeit erstmals in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, ging man davon aus, dass das Problem ebenfalls einer Normalverteilung unterlag: Die Mehrzahl der Obdachlosen befinde sich in derselben, mehr oder minder dauerhaften Notlage. Diese Annahme ließ Verzweiflung aufkommen: Was konnte man denn tun, wenn es so viele Obdachlose mit so vielen Problemen gab? Dann zog Anfang der neunziger Jahre Dennis Culhane, ein junger Student des Boston College, sieben

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