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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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auf eure Regeln.‹« Die Obdachlosenpolitik muss darum das Gegenteil dessen tun, was die Sozialhilfe für die breite Masse tut. Sie muss Abhängigkeit schaffen, damit die Menschen, die so lange außerhalb des Systems zugebracht haben, sich nun innerhalb und unter der Aufsicht der Sozialarbeiter im Keller des YMCA ein neues Leben aufbauen.
    Das ist das Verwirrende an einer Obdachlosenpolitik, die auf der Erkenntnis der Exponentialverteilung beruht. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dieser Ansatz mehr als sinnvoll. Doch aus moralischer Sicht erscheint er ungerecht. Tausende Menschen in Denver leben von der Hand in den Mund, haben drei Jobs und haben die staatliche Unterstützung mindestens ebenso verdient - aber ihnen gibt niemand den Schlüssel zu einer kostenlosen Wohnung. Doch der Typ, der auf der Straße Passanten anpöbelt und Mundwasser trinkt, der bekommt sie. Wenn die Sozialhilfe für die alleinerziehende Mutter ausläuft, dann hat sie Pech gehabt. Wenn der Obdachlose seine Wohnung zertrümmert, dann bekommt er eine neue. Wir erwarten, dass soziale Unterstützung moralisch gerechtfertigt ist. Wir helfen Witwen, Kriegsversehrten und alleinerziehenden Müttern mit Kleinkindern. Doch wenn wir einem Obdachlosen, der seinen Rausch auf dem Gehsteig ausschläft, eine Wohnung geben, dann steckt eine andere Logik dahinter. Es ist einfach effizienter.
    Wir glauben auch, dass Sozialleistungen nicht willkürlich verteilt werden sollten. Wir unterstützen nicht nur ein paar bedürftige Mütter oder eine Handvoll arbeitsunfähiger Kriegsveteranen. Wir unter - stützen alle, die bestimmte objektive Kriterien erfüllen, und staatliche Hilfen sind nur dann glaubwürdig, wenn gleiches Recht für alle gilt. Doch das Obdachlosenprogramm der Stadt Denver erreicht nicht alle Obdachlosen von Denver. Es gibt eine Warteliste von 600 Personen, und es wird noch Jahre dauern, ehe jeder von ihnen eine Wohnung bekommt, wenn überhaupt. Das Geld reicht nicht für alle, und allen nur ein bisschen zu helfen, um das Prinzip der Gerechtigkeit zu wahren, ist teurer, als einige wenige Menschen umfassend zu unter - stützen. Gerechtigkeit bedeutet in diesem Fall, Suppenküchen und Notunterkünfte bereitzustellen, doch Suppenküchen und Notunterkünfte sind keine Lösung für das Problem der Obdachlosigkeit. Unser Sinn für Moral hilft uns bei schweren Fällen nicht weiter. Exponentialverteilungen stellen uns vor eine unangenehme Wahl: Wir können unseren Prinzipien treu bleiben, oder das Problem lösen. Beides geht nicht.
4.
    Einige Kilometer nordwestlich des alten YMCA-Gebäudes im Zentrum von Denver, an der Autobahnabfahrt der I-25 zum Speer Boulevard, steht eine Tafel mit Leuchtdioden, die an ein Abgasmessgerät angeschlossen ist. Wenn ein Auto mit einwandfreien Abgaswerten vorbeifährt, zeigt das Schild »gut«. Und wenn ein Auto mit unzulässig hohen Abgaswerten vorbeifährt, blinkt es »schlecht«. Wenn man an der Abfahrt steht und das Schild eine Weile lang beobachtet, stellt man fest, dass die meisten Autos mit »gut« bewertet werden. Ein Audi A4 - »gut«. Ein Buick Century - »gut«. Ein Toyota Corolla - »gut«.
    Ein Ford Taurus - »gut«. Ein Saab 9-5 - »gut«. Und so weiter, bis nach zwanzig Minuten ein alter, zerbeulter Ford Escort oder ein aufgemotzter Porsche vorbeifährt und das Schild »schlecht« anzeigt. Der Eindruck, den man angesichts dieses Schilds vom Abgasproblem bekommt, ähnelt dem Eindruck, den man während einer morgendlichen Besprechung der Sozialarbeiter im YMCA von der Obdachlosigkeit gewinnt. Autoabgase unterliegen der Exponentialverteilung, und die Luftverschmutzung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer wir uns im Umgang mit Problemen tun, die ein paar schwere Fälle betreffen.
    Die meisten Autos, vor allem Neuwagen, sind extrem sauber. Ein funktionierender Subaru Baujahr 2004 hat einen vernachlässigbaren Kohlenmonoxidausstoß von 0,06 Prozent. Doch auf jeder Autobahn fahren ein paar Autos herum, die - sei es aufgrund ihres Alters, der schlechten Wartung oder der Basteleien ihrer Besitzer - einen Kohlenmonoxidausstoß von mehr als 10 Prozent erreichen. In Denver sind 5 Prozent aller Fahrzeuge für 55 Prozent der Luftverschmutzung verantwortlich.
    »Nehmen wir an, das Auto ist 15 Jahre alt«, sagt Donald Stedman, Chemiker und Abgasspezialist der University of Denver. Sein Labor hat das Schild am Speer Boulevard aufgestellt. »Je älter ein Fahrzeug, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas

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