Was der Hund sah
legte die Obdachlosenstelle ein Programm auf, an dem bislang 106 Personen teilnehmen. Es zielt auf die Murray Barrs von Denver, die Menschen, die das System am meisten kosten. Die Obdachlosenstelle wählte die Menschen aus, die bereits am längsten auf der Straße lebten, ein Strafregister haben, Drogen nehmen oder unter geistigen Behinderungen leiden. »Eine der Teilnehmerinnen ist Anfang sechzig, aber sie sieht aus wie achtzig«, berichtet Rachel Post von der Obdachlosenstelle. »Sie ist alkoholkrank. An einem normalen Tag steht sie auf und versucht, sich ihre Tagesration an Alkohol zu organisieren. Sie stürzt oft. Gleich in der ersten Woche kam ein Mann, der an einem Methadonprogramm teilgenommen hatte, in psychiatrischer Behandlung gewesen war und elf Jahre lang im Gefängnis gesessen hat. Danach hat er drei Jahre lang auf der Straße gelebt, und als wäre das nicht genug, hat er ein Loch im Herz.«
Die Vergabe verlief nach dem Prinzip, das Mangano in St. Louis vorgeschlagen hatte: Wollen Sie eine kostenlose Wohnung? Hier sind die Schlüssel. Die Teilnehmer bekamen ein Apartment beim YMCA oder einem anderen Gebäude der Stadt, vorausgesetzt, sie halten sich an die Regeln des Programms. Im Keller des YMCA richtete die Obdachlosenstelle ein Büro mit zehn Sozialarbeitern ein. An fünf Tagen in der Woche, zwischen halb neun und zehn Uhr morgens, treffen sich die Sozialarbeiter und diskutierten die Entwicklung jedes der Teilnehmer. An den Wänden des Konferenzraums hängen große Tafeln mit Listen von Arztterminen, Gerichtsterminen und Medikamentenplänen. »Für zehn Obdachlose ist ein Sozialarbeiter nötig«, berichtet Post. »Wir müssen die Leute in ihrem neuen Zuhause besuchen und sehen, wie es ihnen geht. Manchmal nehmen wir jeden Tag Kontakt auf. Idealerweise jeden zweiten Tag. In fünfzehn Fällen machen wir uns ernste Sorgen.«
Die Betreuung der Obdachlosen kostet 10 000 Dollar pro Jahr und Kopf. Eine Ein-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt von Denver kostet durchschnittlich 376 Dollar pro Monat oder etwas mehr als 4 500 Dollar pro Jahr, das heißt, man kann einen Obdachlosen für 15 000 Dollar im Jahr unterbringen und betreuen. Das ist etwa ein Drittel dessen, was er auf der Straße kostet. Der Hintergedanke ist, dass sich die Teilnehmer des Programms irgendwann stabilisieren, Arbeit finden, und einen Teil ihrer Miete selbst übernehmen. Damit würde das Programm schließlich nur noch 6 000 Dollar pro Person kosten. Zuletzt kamen 75 weitere Plätze dazu, und in den kommenden zehn Jahren will die Stadt 800 zusätzliche schaffen.
Die Wirklichkeit ist natürlich selten so hübsch und ordentlich. Die Vorstellung, dass die schwierigsten Obdachlosen aufgefangen und ins Arbeitsleben eingegliedert werden können, ist bestenfalls eine Hoffnung. Einige werden es mit Sicherheit nicht schaffen - nicht ohne Grund handelt es sich um schwere Fälle. »Einer der Teilnehmer ist ein Mann von Mitte zwanzig«, erzählt Post. »Er hat Leberzirrhose. Bei einem Alkoholtest hatte er einmal 4,9 Promille - das reicht, um einen Menschen umzubringen. In seine erste Wohnung hat er seine Freunde eingeladen. Sie haben gefeiert, die Wohnung verwüstet und eine Scheibe eingeschlagen. Wir haben ihm eine andere Wohnung gegeben, und da ist dasselbe noch mal passiert.«
Post sagt, der Mann sei seit einigen Monaten trocken. Er könne allerdings jeden Moment wieder rückfällig werden und auch die dritte Wohnung verwüsten, und dann müsse man überlegen, was man mit ihm anstellen solle. Post hat sich gerade in einer Telefonkonferenz mit Kollegen aus New York ausgetauscht, die ein ähnliches Programm betreuen, und sie haben darüber gesprochen, ob solche Klienten durch die Unterstützung nicht noch in ihrer Verantwortungslosigkeit ermuntert würden. In einigen Fällen mag dies zutreffen. Doch was ist die Alternative? Wenn man diesen Mann zurück auf die Straße schickt, kostet er das System nur noch mehr Geld. Die gängige Sozialstaatsphilosophie lautet, staatliche Hilfen zeitlich begrenzt zu vergeben und an Bedingungen zu knüpfen, um keine Abhängigkeit zu schaffen. Doch jemand, der im Alter von 27 Jahren an Leberzirrhose leidet und bei einem Alkoholtest 4,9 Promille im Blut hat, reagiert nicht auf die üblichen Anreize und Sanktionen.
»Die kompliziertesten Fälle sind Leute, die schon so lange obdachlos sind, dass sie keine Angst davor haben, wieder auf der Straße zu leben«, meint Post. »Wenn der Sommer kommt, sagen sie: ›Ich pfeife
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