Was der Hund sah
unberechenbar ist. Wir meinen, es sei ein Prozess, der immer zum Tod führe, wenn nicht eingegriffen werde. »Ein Pathologe von der Internationalen Agentur für Krebsforschung hat einmal zu mir gesagt, wir hätten einen großen Fehler gemacht, als wir CIS ein Karzinom genannt haben«, erzählt Welch. »Damit empfehlen plötzlich alle Ärzte Therapien, weil sie meinen, die Läsion würde sich unweigerlich zu einem gefährlichen Tumor auswachsen. Aber das ist nicht immer der Fall.«
In einem gewissen Prozentteil der Fälle entwickelt sich CIS tatsächlich zu einem gefährlichen Tumor. Einige Studien vertreten die Auffassung, das sei nur selten der Fall. Andere kommen zu dem Schluss, dass es häufig genug passiert, um es ernst zu nehmen. Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Ein Blick auf die Mammografie verrät jedenfalls nicht, ob ein bestimmter CIS zu den wenigen gehört, die sich über den Kanal hinaus ausbreiten, oder zu den vielen, die sich nicht weiterentwickeln. Deshalb meinen einige Ärzte, sie hätten keine andere Wahl, als CIS wie einen potenziell lebensbedrohlichen Krebs zu behandeln; in 30 Prozent der Fälle bedeutet dies eine Entfernung der Brust, und in weiteren 35 Prozent eine Entfernung des Tumors und Bestrahlung. Würde ein besseres Bild das Problem lösen? Wohl kaum, denn das Problem besteht ja darin, dass wir nicht genau wissen, was wir da sehen. Bessere Bilder bedeuten nur, dass wir mehr Dinge sehen, die wir nicht deuten können. Im Falle von CIS liefert die Mammografie Informationen, die wir nicht verstehen. »Seit den achtziger Jahren wurde bei einer halben Million Frauen CIS diagnostiziert und behandelt - eine Krankheit, die davor fast vollkommen unbekannt war«, schreibt Welch in seinem Buch Should I Be Tested for Cancer? (Soll ich mich auf Krebs testen lassen?), einer genialen Darstellung der statistischen und methodischen Unwägbarkeiten der Krebsvorsorge. »Diese Zunahme ist ein direktes Resultat der genaueren Untersuchungen, in diesem Fall mit besseren Geräten. Es ist nachvollziehbar, dass viele Frauen lieber auf diese Diagnose verzichten würden, und zwar zu Recht.«
6.
Der Fall CIS ist umso beunruhigender, als unser Umgang mit dem Tumor ein Paradebeispiel dafür ist, wie der Kampf gegen den Krebs geführt werden sollte. Man nehme eine starke Kamera, mache eine hochauflösende Aufnahme, erkenne den Tumor so früh wie möglich und behandele ihn sofort und aggressiv. Die Kampagne für regelmäßige Mammografien baut erfolgreich auf das Argument der Früherkennung, denn es leuchtet unmittelbar ein. Die Gefahr des Tumors ist am Bild ablesbar. Groß bedeutet schlecht; klein ist besser, da die Wahrscheinlichkeit der Metastasenbildung geringer ist. Doch auch in diesem Fall verhalten sich die Tumore anders, als das Bild vermuten lässt.
Nach Auskunft von Donald Berry, dem Leiter der Abteilung für Biostatistik und Angewandte Mathematik am M. D. Anderson Cancer Center in Houston nimmt die Sterbewahrscheinlichkeit einer Frau mit jedem zusätzlichen Zentimeter, den der Tumor wächst, nur um 10 Prozent zu. »Nehmen wir an, es gibt eine Größe, ab der ein Tumor tödlich ist, und darunter nicht. Das Problem ist, dass diese Schwelle nicht immer dieselbe ist. Wenn wir einen Tumor feststellen, können wir nicht sagen, ob er bereits metastasiert oder nicht. Und wir wissen auch nicht, ob die Metastasenbildung von der Größe des Tumors abhängt oder ob ein paar Millionen Zellen schon ausreichen, um sich im Rest des Körpers auszubreiten. Wir können feststellen, dass ein größerer Tumor gefährlicher ist. Aber nicht sehr viel gefährlicher. Der Zusammenhang ist nicht so deutlich, wie man vielleicht meinen könnte.«
In einer genetischen Analyse von Brustkrebstumoren untersuchten Wissenschaftler Frauen, die schon lange beobachtet worden waren, und teilten sie in zwei Gruppen ein: diejenigen, deren Krebs sich zurückgebildet hatte, und diejenigen, deren Krebs sich auf den ganzen Körper ausgebreitet hatte. Dann gingen sie zurück zu dem Moment, an dem der Krebs erstmals diagnostiziert worden war und analysierten Tausende Gene, um herauszufinden, ob es schon zu diesem Zeitpunkt möglich gewesen wäre, zu erkennen, bei wem der Krebs Metastasen bilden würde und bei wem nicht. Die Früherkennung geht davon aus, dass dies unmöglich ist: Der Tumor wird entfernt, ehe er wirklich gefährlich wird. Doch Wissenschaftler erkannten, dass selbst bei einer Größe von einem Zentimeter, ab der er von einer
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