Was der Hund sah
die Beweise und verneinte. Er sollte sich irren. Am Nachmittag griff Syrien von Osten aus an und überwand die schwachen israelischen Verteidigungsstellungen auf den Golanhöhen, während im Süden Ägypten israelische Stellungen bombardierte und achttausend Infanteriesoldaten über den Suezkanal schickte. Trotz aller Warnungen der vorangegangenen Wochen wurden die Israelis von dem Überfall überrascht. Warum hatten sie nicht einfach eins und eins zusammengezählt?
Wenn man am Nachmittag des 6. Oktober beginnt und die Entwicklung zurückverfolgt, dann scheint es unbegreiflich, wie jemand die Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff hatte übersehen können. Man kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass sich die israelischen Geheimdienste schwere Versäumnisse zuschulden kommen ließen. Wenn man dagegen einige Jahre vor dem Yom-Kippur-Krieg beginnt, die Entwicklung in ihrer chronologischen Abfolge betrachtet und rekonstruiert, was die Mitarbeiter der israelischen Geheimdienste zu jedem einzelnen Zeitpunkt wussten, dann ergibt sich ein vollkommen anderes Bild. Im Herbst 1973 sah es natürlich so aus, als würden Ägypten und Syrien einen Krieg vorbereiten. Doch im Nahen Osten der damaligen Zeit sah es andauernd so aus, als würde ein Land einen Krieg vorbereiten. Im Herbst 1971 verkündeten der ägyptische Präsident und sein Kriegsminister beispielsweise öffentlich, die Stunde des Krieges sei gekommen. Die ägyptische Armee wurde mobilisiert, Panzer und Brückengerät wurden an den Suezkanal transportiert, die Armee nahm Angriffsstellungen ein. Und es passierte nichts. Im Dezember 1972 mobilisierten die Ägypter ihre Armee ein weiteres Mal. Eilig errichteten sie befestigte Stellungen entlang des Kanals, und ein verlässlicher Informant teilte den israelischen Geheimdiensten mit, ein Angriff stehe unmittelbar bevor. Wieder passierte nichts. Im Frühjahr des Jahres 1973 erklärte der ägyptische Präsident der Zeitschrift Newsweek , sein Land bereite nun ernsthaft einen neuen Krieg vor. Ägyptische Streitkräfte wurden in die Suezregion verlegt. Entlang des Kanals wurden ausgedehnte Befestigungen errichtet. Die Bevölkerung wurde zum Blutspenden aufgerufen. Die Zivilverteidigung wurde mobilisiert. Über ganz Ägypten wurde Verdunkelung verhängt. Eine verlässliche Quelle informierte den israelischen Geheimdienst, ein Angriff stünde bevor. Er blieb aus. Zwischen Januar und Oktober 1973 wurde die ägyptische Armee insgesamt neunzehnmal mobilisiert, ohne dass es zu einem Angriff gekommen wäre. Die israelische Regierung konnte nicht jedes Mal die Armee in Alarmbereitschaft versetzen, wenn die Nachbarn mit dem Säbel rasselten. Israel ist ein kleines Land mit einer Bürgerarmee. Eine Mobilisierung ist störend und teuer, und wenn Ägypten und Syrien nicht wirklich zum Krieg rüsteten, konnte eine israelische Mobilmachung die Situation eskalieren lassen.
Auch die anderen Hinweise schienen nicht weiter ungewöhnlich. Die Tatsache, dass die Angehörigen der sowjetischen Militärberater nach Hause geschickt wurden, konnte auf eine Verstimmung zwischen den Arabern und Moskau hindeuten. Ja, um 4 Uhr morgens rief ein verlässlicher Informant an und warnte vor einem Angriff am späten Nachmittag, doch seine letzten beiden Warnungen hatten sich als falsch erwiesen. Mehr noch, es erschien unlogisch, dass der Angriff bei Sonnenuntergang erfolgen sollte, wie der Informant behauptete, denn in diesem Fall hätten die Angreifer keine Zeit mehr, vorbereitende Luftschläge durchzuführen. Mit anderen Worten, wenn die israelischen Geheimdienste kein Muster in den Aktivitäten der Ägypter und Syrer erkannten, dann deshalb, weil sie bis zum tatsächlichen Angriff am Nachmittag des 6. Oktober 1973 keines ergaben, oder allenfalls ein Rorschach-Bild. Was im Rückblick sonnenklar erscheint, ist im Vorhinein selten zu erkennen. So offensichtlich das klingen mag, es ist hilfreich, sich gelegentlich daran zu erinnern, zumal inmitten der Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit dem Überraschungsangriff des 11. September 2001.
2.
Von den vielen Analysen des 11. September ist vermutlich die am meisten beachtete ein Buch mit dem Titel The Cell von John Miller, Michael Stone und Chris Mitchell. Die Autoren beginnen ihre Darstellung mit El Sayyid Nosair, einem Ägypter, der im November 1990 verhaftet wurde, weil er Rabbi Meir Kahane, den Gründer der Jewish Defense League, im Ballsaal des Marriott Hotel in Manhattan erschossen hatte. Bei der
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